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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
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gezogen wurde. Günter war wieder frei. Er atmete tief durch.
    »Ich danke euch beiden«, sagte er noch einmal. »Leider kann ich Wiebke nur versprechen, dass ich es irgendwann wiedergutmachen werde. Wie sollte ich dir auch etwas schenken? Thomas würde es nicht verstehen und vor Eifersucht rasen.«
    »Mach dir darüber keine Gedanken. Irgendwann wird es schon dazu kommen. Ich musste die Gegenleistung nach zwanzig Jahren erbringen«, frotzelte Randolf. »Und ich will ehrlich sein. Ich habe dir auch geholfen, weil ich dich verstehen kann.«
    »Du mich?«
    »Ja. Du hast versucht zu überleben. Glaube mir, wir Ossis wissen, was das manchmal heißt. Und dann kommt da einer, der sich Notizen gemacht hat. Der Fotos oder sonstige Beweismittel hat und dich vernichten will. Oh ja, ich kenne das. Es ist ein großes Scheißgefühl. Und deswegen weiß ich auch, wie befreiend es sich für dich anfühlt, nachdem die Unterlagen den Weg alles Irdischen gegangen sind. So wie ich mich 1989 gefühlt habe, als Wiebke das Gleiche mit meiner Akte getan hat.«
    »Was wäre denn so schlimm gewesen, wenn sie die Akte gekriegt hätten? Ich denke, du warst Direktor eines VEB. Das ist doch nichts Verwerfliches.«
    »Wiebke hat es dir also nicht erzählt?«
    Günter schüttelte den Kopf.
    Braves Mädchen, dachte Randolf. Brav? Nein. Loyales Mädchen.
    »Ich erzähle es dir. Warum sollten wir Geheimnisse voreinander haben? Ja, ich war Direktor dieses Kombinats. Aber das war nur Fassade. Hauptberuflich war ich Agent. Industriespionage. Meine Westreisen im Auftrag meines Betriebes waren dafür die perfekte Tarnung.«
    »Und? Hattest du Erfolg?«
    »Und wie! Unser größter Coup war es, VW die kompletten streng geheimen Entwicklungsunterlagen für den damals neuen VW Golf II zu stibitzen. Wir hatten alles. Baupläne, technische Zeichnungen, Stücklisten. Alles, was normalerweise Hunderte Millionen kostet, um es zu entwickeln.«
    »Aber«, wandte Günter ein, »ihr habt doch nie einen Golf oder etwas Ähnliches gebaut. Die Automobilproduktion in der DDR bestand doch bis zum Schluss aus dem sagenumwobenen Trabant mit Zweitaktmotor und dem Wartburg, der, wenn ich richtig informiert bin, auf einer BMW-Konstruktion aus dem Jahr 1939 basierte.«
    »Leider mussten wir lernen, dass der Weg zum Sozialismus steinig ist. Es genügt nicht, alles zu wissen. Man muss es auch herstellen können. Wir hatten weder die Stanzwerke, die nötig waren, um die Blechteile zu pressen. Schon gar nicht mit der erforderlichen Toleranz. Noch waren unsere Arbeiter dazu ausgebildet, einen für damalige Verhältnisse und vor allem im Vergleich zum Trabant ausgesprochen komplizierten Wagen zusammenzubauen. Unsere Werke wären an der Produktion eines modernen Motors zugrunde gegangen. Von den Problemen, dass zum Beispiel eine Firma Bosch vermutlich harte Westwährung für die Lieferung von Zündanlagen und Einspritzsystemen verlangt hätte, mal ganz abgesehen. Wir waren wie die Eunuchen: Wir wussten zwar ganz genau, wie es geht. Aber wir konnten es einfach nicht.«
    »Und deshalb habt ihr ein paar tausend Golfs aus westdeutscher Produktion gegen die Lieferung von Blechen getauscht.«
    »Bleche konnten wir«, sagte Randolf tonlos.
    »Gut«, bemerkte Günter nach einer Höflichkeitspause. »Aber so schlimm war das doch nun auch wieder nicht. Die meisten Taten dürften verjährt gewesen sein.«
    »Du hast hier nicht gelebt«, sagte Randolf.
    Wiebke spitzte die Ohren. Sollte ihr linientreuer Onkel doch einsichtig geworden sein? Sollte sich Altersstarrsinn in Altersmilde verwandelt haben?
    »Wie meinst du das?«
    »Nun. Als Agent stand ich natürlich unter besonderer Beobachtung unserer allseits geliebten Stasi. Vor allem, weil ich Reisen ins kapitalistische Ausland unternehmen durfte. Die hatten eine Heidenangst, ich könnte die Seiten wechseln. Irgendwann verlangen die also von dir Beweise deiner Linientreue …« Randolf hielt inne. »Ich brauche jetzt was zu trinken«, sagte er.
    »Ich auch«, sekundierte Wiebke.
    »Aber was Anständiges«, bemerkte Günter.
    Randolf stand auf, ging in die Speisekammer und kam mit einer Literflasche glasklarer Flüssigkeit und drei Wassergläsern zurück.
    »Das einzig Vernünftige, was die Russen uns dagelassen haben«, sagte er und stellte die Flasche Wodka und die Gläser auf den Tisch.
    »Onkel«, sagte Wiebke lächelnd. »Unser Brudervolk hat uns nur gesundheitsschädlichen Schnaps gebracht? Nicht mehr? Von den Sowjets lernen heißt siegen

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