Kalte Fluten
Spickzettel bezeichnen. Das war’s. Was ist daran, nach über zwanzig Jahren, so bedeutungsvoll?«
Kleinert wurde blass. Sein Mund war trocken. Er schwankte mehr zu der beweglichen Holzvertäfelung, als dass er ging, schob sie zur Seite und schenkte sich einen großen Cognac ein. Er stürzte ihn hinunter.
»Ich bin betrogen worden«, brachte er schließlich hervor.
»Wie darf ich das verstehen?«
»Der wahre Ordner ist vertauscht worden!«
»Das verstehe ich jetzt nicht wirklich«, sagte Wiebke. »Sie haben doch auf genau diesen Ordner gezeigt, als ich Sie fragte. Was soll denn vertauscht worden sein?«
»Der Ordner ist vielleicht echt. Aber der Inhalt nicht«, sagte er aufgeregt. »Es war ein ganz anderer Inhalt in dem Ordner.«
»Sie reden ziemlichen Stuss, Herr Kleinert, wenn ich das einmal so sagen darf. In diesem Ordner findet sich der Beweis, dass Sie für Oberstaatsanwalt Günter Menn Spickzettel vorbereitet haben. Das ist sicher nicht im Sinne der Prüfungsordnung. Aber ein Verbrechen? Es findet sich keinerlei Beweis dafür, dass Herr Menn diese von Ihnen vermutlich zu seiner Zufriedenheit erstellten Spickzettel auch benutzt hat. Wenn Herr Menn clever ist, und davon ist auszugehen, wird er bestreiten, sie verwendet zu haben. Er wird vermutlich sagen, dass er Ihnen dreitausendfünfhundert Mark für Lernunterlagen gezahlt hat. Das haben Sie schließlich auch quittiert.«
Kleinert wollte sich gerade den bereits dritten doppelten Cognac genehmigen, hielt jedoch irritiert inne.
»Was für eine Quittung?«
»Kommen Sie mal her.«
Er ging um den Schreibtisch und sah seine Handschrift. Er musste das geschrieben haben. Ohne Frage. Doch er hatte es nicht getan, da war er sicher. Es war gespenstisch.
»Außerdem frage ich Sie«, fuhr Wiebke fort, »wie denn der Inhalt des Ordners ausgetauscht worden sein soll? Ich kann keinerlei Einbruchsspuren am Safe feststellen.«
»Aber …«, stotterte Kleinert. »Äh, immerhin kann ich beweisen, dass der saubere Oberstaatsanwalt unlautere Mittel bei seinem zweiten Staatsexamen benutzt hat.«
Er hatte sein Jackett ausgezogen. Schweißflecken zeichneten sich auf seinem Hemd ab. Er wusste nur zu genau, dass dieser Vorwurf dünn war. Viel zu dünn, um eine ernsthafte Gefahr für Günter darzustellen. Aber es war der letzte Honig, den er aus der verdorrenden Blüte ziehen konnte.
»Jetzt hören Sie mal. Ich schlage vor, dass Sie mit den Kindereien aus längst vergangenen Tagen aufhören und wir uns mit Ihren wesentlich schwerwiegenderen Verfehlungen der Gegenwart beschäftigten, meinen Sie nicht auch?«
Schlagartig wurde ihm klar, dass Günter ihn ausgetrickst hatte. Nicht nur, dass er – der Teufel wusste, wie – an die Klausuren gekommen war. Er hatte ihm auch noch diese für ihn, Johannes, eher peinlichen Unterlagen untergeschummelt. Er hatte keine Ahnung, wie Günter das gemacht hatte. Nur eines war klar: Er hatte verloren.
Just in diesem Moment erschien Günter.
Das Lächeln eines Siegers hat eine ungeheure Faszination auf dessen Umgebung. Sie macht den Menschen, der es auf dem Gesicht trägt, attraktiv, sympathisch und überlegen.
Fand jedenfalls Wiebke.
Kleinert dagegen wurde rasend. Er ging auf Günter los, sprang ihm an die Gurgel und würgte ihn.
»Ich bringe dich um, du Ratte. Ich kille dich, du Arschloch.«
Günter rang nach Luft. Schließlich gelang es ihm, sich aus dem Griff zu lösen. Er rieb seinen Hals.
»Frau Sollich, ich bitte Sie, dieses Verhalten zu ignorieren«, sagte er völlig gelassen. »Das bin ich meinem alten Studienkollegen schuldig, einfach zu vergessen, dass er in nachvollziehbarer Erregung auf mich losgegangen ist. Ich will ihm nicht noch mehr Schwierigkeiten machen. Denn davon hat er wahrlich genug.«
»Womit willst du mir denn Schwierigkeiten machen, du unfähiger Dummkopf, der sich an das, was Jura bedeutet, wenn überhaupt, nur dunkel erinnern kann?«
Günter nahm die Beleidigung stoisch hin. »Ich bitte Sie, Frau Sollich, Herrn Kleinert festzunehmen.«
»Du willst was? Du willst mich festnehmen lassen? Warum denn das? Wo ist der Haftgrund?«
»Akute Verdunkelungs- und Fluchtgefahr. Paragraf 139 Absatz 1 Strafprozessordnung, wenn Sie sich jetzt bitte Ihrerseits dunkel erinnern wollen.«
»Was?« Mehr als dieses Wort brachte Kleinert nicht hervor. Er war baff.
»Als Sie versuchten, mich zu bestechen«, erläuterte Günter, »bin ich zum Schein darauf eingegangen. Während Sie das Geld besorgten und dann deponierten,
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