Kalte Freundschaft
ja …«, sagt Nadine, »weniger Aufwand …«
Sie will ihrer Tochter keine Vorschriften machen, hofft aber insgeheim, sie am Strand zu sehen. Früher brachte Marielle immer jede Menge andere Kinder mit nach Hause. Es verging kein Wochenende, an dem nicht eine Freundin über Nacht blieb. Ab und zu klagte Nadine, bei ihnen gehe es zu wie in einem Taubenschlag, doch im Grunde genoss sie den Trubel
und war froh, dass Marielle sie an ihrem Leben teilhaben ließ. In letzter Zeit hatte sich das grundlegend geändert.
»Wer ist eigentlich Ruben?«, fragt sie wie nebenbei.
Marielle fixiert sie misstrauisch.
»Ruben?«, wiederholt sie, wie um Zeit zu gewinnen.
»Ich habe eine MSN-Nachricht von ihm auf deinem PC gesehen. Ist er ein Freund?«
Zornig knallt Marielle die Zeitschrift auf den Tisch. »Was hast du an meinem Computer zu suchen? Ich les doch auch nicht heimlich deine Mails!«
»Ich war nur zufällig in deinem Zimmer und habe das Fenster zugemacht, als diese Nachricht von Ruben reinkam.«
»Ach ja? Und die musstest du natürlich sofort lesen!«, ruft Marielle erbost.
»Nicht in diesem Ton!«, sagt Nadine warnend. »Wenn du deinen PC anlässt, musst du damit rechnen, dass ich so was mitkriege. Ich lege es keinesfalls darauf an, aber ich laufe auch nicht mit Scheuklappen in deinem Zimmer herum. Ist Ruben ein Klassenkamerad von dir?«
»Ja«, sagt Marielle schroff. Sie steht auf und will gehen, aber Nadine hält sie am Arm fest.
»Marielle, wenn du einen Freund hast, kannst du mir das ruhig sagen. Schließlich bist zu sechzehn und keine zwölf mehr. Du kannst den Jungen gern mit nach Hause bringen …«
Marielle weicht ihrem Blick aus. Sie reißt sich los und geht zur Tür. Mit einem Mal wirkt sie nicht mehr zornig, sondern eher ängstlich, was Nadine zu denken gibt.
12
»Marielle ist ein nettes Mädchen«, sagt Sigrid, als sie bei einem Cappuccino auf der geschützten Terrasse des Strandcafés sitzen. »Vermutlich ist sie total verknallt und fühlt sich unsicher. Mag er mich, will er mit mir gehen? Mit dir will sie verständlicherweise nicht über so was reden. Du hast solche Dinge früher mit Sicherheit auch für dich behalten.«
»Ja«, gibt Nadine zu. »Aber gewöhnungsbedürftig ist es trotzdem. Früher hat sie mir immer alles erzählt.«
»Teenager lassen ihre Eltern nun mal gern ein wenig zappeln, damit musst du leben.«
»Danke, das hilft mir enorm!«
Sigrid lacht. »Ach, Nadine, lass Marielle einfach in Ruhe. Sie ist viel zu klug, um irgendwelche Dummheiten anzustellen.«
»Nein, das ist sie nicht. In ihrem Alter weiß man noch gar nicht, was eine Dummheit ist. Hab ich dir jemals erzählt, wie das bei meinem letzten Familienurlaub mit den Eltern war?«
Als Sigrid den Kopf schüttelt, beginnt Nadine: »Sechzehn war ich damals. Meine Eltern wollten Urlaub
in Luxemburg machen und mich nicht allein zu Hause lassen. Also fuhr ich mit, auf einen Campingplatz, wo kaum etwas geboten war. Keine Animateure, keine Disco, kein Swimmingpool, wie das heute so üblich ist. Man konnte nur im Fluss schwimmen, und es gab eine Imbissbude - aber das war’s auch schon. Zum Glück traf ich andere Jugendliche, wir sangen am Lagerfeuer und so - Marielle würde darüber nur die Nase rümpfen. Als meine Eltern einmal wandern gingen, fragten mich zwei ältere Jungs um die achtzehn, neunzehn, ob ich mit ihnen einen Ausflug machen wolle: eine Burg in der Nähe besichtigen, Eis essen … nichts Spektakuläres. Aber das war auf jeden Fall besser, als allein auf dem Campingplatz abzuhängen. Ich ging also mit, und wir hatten eine Menge Spaß. Als wir wieder zurückkamen, waren meine Eltern völlig außer sich. Sie hatten mich bereits vergewaltigt im Wald liegen sehen oder tot in einem Autowrack. Was mir einfiele, einfach mit diesen Jungs, die ich kaum kenne, wegzugehen! Ich sei egoistisch, unzuverlässig und was weiß ich noch alles. Dabei hatte ich mich nur ein bisschen amüsieren wollen. Ich verstand überhaupt nicht, weshalb sie sich so aufregten.« Nadine trinkt einen Schluck Cappuccino.
»Aber heute verstehst du es«, meint Sigrid.
»Genau. Wer konnte schon wissen, was die beiden Burschen vorhatten? Was, wenn sie sich betrunken hätten und in diesem Zustand die kurvenreiche Strecke zurückgefahren wären? Sie hätten mich auch vergewaltigen
können … Dass nichts davon eintraf, hatte absolut nichts mit meinem Urteilsvermögen zu tun. Man kann nie wissen, ob jemand vertrauenswürdig ist oder nicht.«
»Andererseits
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