Kalte Freundschaft
Schulter.
»Du bist früh dran. Was machst du da?«
Er brummt etwas, ohne aufzusehen.
Nadine nimmt eine der Mappen und blättert darin. Sie enthält Zeitungsausschnitte über Morde an jungen Frauen.
»Das sind ja lauter alte Meldungen«, stellt sie fest.
Aus seiner Konzentration gerissen, dreht Arnout sich zu ihr um. »Ich vergleiche gerade frühere Fälle mit den beiden Morden vom letzten Sommer. Die älteren Artikel sind alle noch nicht digitalisiert, deshalb die Mappen.«
»Und? Hast du etwas rausgefunden?«
»Es gab etliche vergleichbare Verbrechen, aber ob die mit unseren zusammenhängen, lässt sich nur
schwer sagen - zumal sie alle in anderen Städten begangen wurden.«
»Das muss nichts heißen. Auch Mörder ziehen um, gerade Mörder.« Nadine zieht einen Stuhl heran, setzt sich neben Arnout und beginnt zu lesen.
In sämtlichen Artikeln geht es um Frauen, die spätabends auf dem Nachhauseweg überfallen wurden. Bei vielen fand man GHB im Blut, einige der Opfer wurden vergewaltigt.
»Du hast recht«, meint Nadine nach der Lektüre mehrerer Berichte. »Ein Zusammenhang lässt sich allerdings nur schwer herstellen. Es gibt zwar Übereinstimmungen, aber auch jede Menge Unterschiede. Hier zum Beispiel: Der Frau wurden mehrere Messerstiche zugefügt, dann hat man ihr die Kehle durchgeschnitten. Und hier: Vergewaltigt und danach mit einem schweren Gegenstand erschlagen. Umgebracht wurden sie auf unterschiedliche Weise, und längst nicht alle sind vergewaltigt worden.«
»Vielleicht ändert der Täter öfter seine Vorgehensweise.« Arnout lehnt sich zurück und streckt die Glieder. »Aber es könnten ebenso gut verschiedene Täter sein. Und dass Vergewaltigungsopfer mit GHB betäubt werden, ist in letzter Zeit leider gang und gäbe.«
»Was ist das eigentlich genau? Ich kenne es nur als Partydroge.«
»GHB ist eine körpereigene Substanz, ein sogenannter Neurotransmitter. Früher hat man es als Schlafmittel und für Narkosen vor Operationen verwendet«, erklärt Arnout. »Heute ist es tatsächlich als
Partydroge beliebt. Es beeinflusst das Zentralnervensystem und wirkt bei niedriger Dosierung angstlösend und enthemmend. Dosiert man es höher, fühlt sich der Betreffende schlapp und müde, deshalb wird es häufig als ›Vergewaltigungsdroge‹ genommen. In sehr hoher Dosierung wiederum verursacht es Brechreiz und kann sogar zu einem Atemstillstand führen. Es ist also als sehr gefährlich einzustufen.«
»Ich glaube nicht, dass die Fälle zusammenhängen«, überlegt Nadine laut. »Dass jemand mit GHB betäubt wird, kommt - wie du vorhin selbst gesagt hast - leider öfter vor. Und meist geht es dem Täter darum, das Opfer zu vergewaltigen. Es sind aber längst nicht alle betroffenen Frauen vergewaltigt worden.«
»Vielleicht, weil der Täter gestört wurde und keine Zeit mehr dazu hatte«, wendet Arnout ein. »Wenn es ein und derselbe ist, hat er noch mehr Morde auf dem Gewissen. Und ist noch jedes Mal davongekommen.«
Wieder wird Nadine bewusst, dass sie und Marielle selbst auch gefährdet sind. Denn solange der Täter frei herumläuft … Bei dem Gedanken überfällt sie die nackte Angst. Rasch steht sie auf, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Eelco fehlt ihr sehr. Den Januar und Februar über stürzt sie sich regelrecht in die Arbeit, um nicht dauernd grübeln zu müssen. Neue Theaterstücke, Kinofilme und Ausstellungen halten sie auf Trab.
Eines Freitagabends im März meldet sich Cynthia.
»Ich hab gute Nachrichten!«
»Dann schieß los. Eine Ablenkung kann ich mehr als gut gebrauchen.«
»Kommende Woche findet der Bücherball statt, und ich habe Karten ergattert. Hast du Lust hinzugehen?«
»Der Bücherball? Ich weiß nicht recht …« Nadine zögert. Früher hätte sie es sich nicht träumen lassen, jemals zur feierlichen Eröffnung der Buchwoche eingeladen zu werden. Doch jetzt ist sie unsicher, ob sie hingehen soll.
»Gib dir einen Ruck, Nadine! Das darfst du dir auf keinen Fall entgehen lassen!«
»Also gut. Wer kommt denn sonst noch mit?«
»Alle unsere Autoren, Veerle van Oostveen natürlich auch. Erst gehen wir gemeinsam essen und danach zu Fuß zur Stadsschouwburg. Du kannst übrigens eine Begleitung mitbringen, gern auch zum Essen.«
Allmählich überwiegt die Vorfreude. »Bald gehe ich in die Stadt und kaufe mir ein Abendkleid«, sagt Nadine.
Sie legt auf und merkt, dass sie zum ersten Mal seit Langem wieder lächelt. Der Bücherball! Und sie wird über den roten Teppich
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