Kalte Freundschaft
passiert! Ihre schlimmste Befürchtung ist eingetroffen. Von nun an wird ihr Leben ein einziger Albtraum sein, aus dem es kein Erwachen mehr gibt.
»Sie rufen bestimmt wegen meiner Tochter Marielle an. Sie ist nämlich verschwunden. Eigentlich wollte sie bei einer Freundin übernachten, aber dort ist sie nie angekommen. Und Marielle würde nie eine ganze Nacht wegbleiben, ohne mir zu sagen, wo sie ist. Das hören Sie vermutlich öfter von besorgten Eltern, aber glauben Sie mir, ich kenne meine Tochter. Sie würde nie … auf keinen Fall macht sie …« Nadine gerät ins Stocken und verstummt.
»Ich rufe nicht wegen Ihrer Tochter an, Frau van Mourik.«
Wie? Es geht gar nicht um Marielle? Aber sie ist doch …
Es dauert einen Moment, bis Nadine begriffen hat.
Sie setzt sich aufs Sofa, atmet tief durch und schließt kurz die Augen. Wieder hat sie sich unnötig aufgeregt, sich in ihre Angst hineingesteigert.
Doch die Erleichterung währt nur kurz. Die Stimme des Kommissars hat ernst geklungen. Es muss etwas Schlimmes passiert sein, wenn die Polizei in aller Herrgottsfrühe anruft.
»Und worum geht es bitte?«
»Frau van Mourik, Sie waren gestern Abend auf dem Bücherball in Amsterdam, stimmt das?«
»Äh … ja … das stimmt«, sagt Nadine verblüfft.
»Kurz nach Mitternacht ist dort ein Verbrechen geschehen. Im Rahmen der Ermittlungen führen wir Befragungen durch, und ich möchte Sie bitten, sich heute Vormittag persönlich bei der Polizei in Amsterdam zu melden.«
»Ein Verbrechen? Auf dem Bücherball? Und was hab ich damit zu tun?«
»Reine Routine. Wir befragen jeden, der dort war. Dass wir uns so früh melden, hängt damit zusammen, dass wir eine SMS von Ihnen auf dem Handy des Opfers gefunden haben.«
Tief durchatmen, ein und aus, ein und aus.
»Wer ist es? Jemand, den ich kenne?« Noch bevor sie die Antwort hört, weiß sie: Natürlich ist es ein Bekannter, warum sonst sollte die Polizei so früh bei ihr anrufen?
»Kennen Sie Eelco van Ravensberg?«
Nadine hat das Gefühl, die Wände des Zimmers rückten näher, drohten sie zu erdrücken.
»Ja«, würgt sie mühsam hervor. »Was ist mit ihm?«
»Er wurde kurz nach Mitternacht in der Stadsschouwburg niedergestochen.« Die Stimme des Polizisten ist sachlich.
»Wie bitte?«
»Sie haben leider richtig gehört. Man hat Herrn van Ravensberg mit einem Messer in den Rücken gestochen. Er ist tot, heute früh im Universitätsklinikum Amsterdam verstorben.«
Ganz langsam, wie ein lähmendes Gift, das durch die Adern kriecht, breitet sich Entsetzen in ihr aus. Sie will etwas erwidern, bringt aber nur ein heiseres Krächzen zustande. Sie schluckt mehrmals.
Eelco … Messer … tot …
Die Worte wirbeln durch ihren Kopf wie welke Blätter in einem Herbststurm.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Ich fürchte, ich habe nicht richtig verstanden. Was ist mit Eelco?«
»Er ist tot, leider. Haben Sie Herrn van Ravensberg gut gekannt?«
»Tot?« Erst jetzt wird Nadine klar, was der Kommissar gesagt hat. »Das kann nicht wahr sein! Er wollte mich doch anrufen und …«
»Es tut mir sehr leid, Frau van Mourik«, sagt Immink. »Trotzdem würden die Kollegen in Amsterdam sie gern so bald wie möglich sprechen. Können Sie noch heute Vormittag hinfahren?« Es klingt wie ein Befehl, nicht wie eine Bitte.
Nadine will schon zustimmen, doch dann denkt
sie an Marielle. »Ich kann auf keinen Fall nach Amsterdam. Meine Tochter ist nämlich verschwunden, ich muss sie suchen. Und außerdem kann ich in diesem Zustand gar nicht fahren. Ich bin völlig durcheinander und …« Sie verliert endgültig die Fassung und beginnt hemmungslos zu schluchzen.
Immink wartet, dass sie sich beruhigt, aber Nadine kann einfach nicht aufhören. Wie aus weiter Ferne hört sie seine Stimme: »Ich glaube, es wäre tatsächlich nicht gut, wenn Sie in diesem Zustand nach Amsterdam fahren würden. Wir können das Gespräch auch in Leiden führen. Passt es Ihnen um halb neun?«
Er muss die Uhrzeit mehrmals wiederholen, bis Nadine antwortet.
Widerwillig stimmt sie zu. Als stünde ihr der Sinn jetzt nach einem Verhör!
Nachdem sie aufgelegt hat, sitzt sie noch lange mit dem Hörer in der Hand da und starrt ins Leere. Marielle ist verschwunden … Eelco wurde ermordet. Mit einem Mal hat sie wieder das dumpfe Gefühl, dass da schon seit Längerem etwas brodelt.
Langsam geht sie in die Küche und sucht in einer Schublade nach den Kopfschmerztabletten. Sie nimmt zwei davon und spült sie mit
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