Kalte Haut
dass er nicht mal die Zeit für ein ordentliches Frühstück fand –vom Abendessen ganz zu schweigen –, das ging ihm gewaltig gegen den Strich. Versprich mir, dass die vier Jahre nicht vergebens waren!
Wie auf ein Stichwort klingelte es an der Tür. Wahrscheinlich hatte Nadine etwas vergessen. Bei dem Gedanken, sie noch einmal zu sehen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, wurde Robert gleich viel wohler.
Doch vor der Tür stand Max.
»Hast du schon gehört?«, fragte sein Bruder, während er sich an ihm vorbei in die Diele schob. »Dein Mörder hat wieder zugeschlagen.«
» Mein Mörder?«
»Du weißt schon, was ich meine. Und diesmal hat es den Chef von Tania erwischt. Das ist er doch, oder? Der Chefredakteur vom Kurier ?«
»Ja.«
»Und was hat das zu bedeuten?«
»Was weiß ich denn!«, fauchte Robert und setzte sich an den Küchentisch.
Max sah ihn strafend an. »Du bist doch Profiler, oder etwa nicht?«
»Fallanalytiker«, korrigierte ihn Robert.
Sein Bruder verdrehte die Augen. »In den Nachrichten sagen sie, die Tat hat einen politischen Hintergrund.«
Für eine politische Tat ist das alles viel zu aufwendig. Dennoch musste er sich mit Blick auf die Indizien beider Entführungsfälle eingestehen, dass diese Schlussfolgerung sogar stichhaltiger als Roberts eigene Mutmaßung eines alle Grenzen übertretenden Stalkers war. Aber was sagt das über den Mörder aus?
Robert rief sich das Foltervideo ins Gedächtnis. So klar die Szenen ihm vor Augen standen, so undeutlich war das Bild, das er von dem Täter hatte, der für diese Gräueltaten verantwortlich war. Nein, schlimmer noch: Du hattest dir ein Bild vom Täter gemacht – und es war falsch!
Nur in einem Punkt hatte er recht behalten, und seltsamerweise empfand er deshalb Genugtuung: Die Taten des Mörders zeugten von einer außergewöhnlichen Intelligenz. Er geht noch viel raffinierter vor, als wir angenommen haben. Blieb nicht zuletzt die Frage: Welche Botschaft wollte der Killer mit seinen Taten übermitteln? Was war sein Ziel?
Robert überlegte, ob er vor lauter Erschöpfung etwas Wichtiges übersehen hatte. Dieser verfluchte Jetlag. Er rief sich die Ereignisse der letzten Tage noch einmal nacheinander in Erinnerung, aber sosehr er sich auch bemühte, er fand nichts.
Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als zu warten, bis die Kommissarin ihn verständigte, wenn sie und ihre Leute die Leiche gefunden hatten.
89
»Das ist unmöglich!« Sera hechtete die Treppen im n-tv -Gebäude hinunter. Büros flogen an ihr vorbei, Redakteure sprangen erschrocken aus dem Weg.
Gesing konnte kaum mit ihr Schritt halten. »Was?«
»Das Ernie & Bert ist ein ganz normales Café mit ganz normalem Kundenverkehr.«
»Du kennst es?«
Ob ich es kenne? Sera verschluckte sich und hustete. »Wir waren schon mal dort, vor einem halben Jahr. Erinnerst du dich?«
»Nee.«
»Wir haben uns über den Namen amüsiert.«
»Stimmt, jetzt, wo du’s sagst.«
»Aber das muss ein Irrtum sein. Niemand kann dort unbemerkt eine Leiche ablegen.«
Als wenn es darum geht! Sera legte noch einen Zahn zu. Mit jedem weiteren Schritt spürte sie ihre verletzte Rippe stärker.
Im Erdgeschoss entsperrte der Portier das Drehkreuz zum Ausgang. Sera überquerte den Schiffbauerdamm und hechtete in den Passat, der an der Ecke zum Gebäude der Bundespressekonferenz abgestellt war. In Seras Brust tobte ein Feuer. Sie hielt sich die schmerzende Prellung, als sie per Funk bei der Zentrale zwei Einsatzfahrzeuge anforderte.
Währenddessen schoss aus der Tiefgarage ein Transporter mit dem n-tv -Emblem. Thorsten Schulze umkrampfte wie ein Formel-1-Pilot das Steuer.
Gesing startete den Wagen. »Wo finden wir die Kneipe?«
»Hackescher Markt.«
Sera schmeckte Blut. In der Hektik hatte sie sich die Unterlippe aufgebissen. Schnell presste sie ein Taschentuch auf die Wunde. Warum war der Journalist zum Ernie & Bert bestellt worden? Ausgerechnet zu Gerrys Kneipe?
Gesing setzte das Blaulicht aufs Pkw-Dach. Das Signalhorn verjagte erschrockene Fußgänger von der Straße. Diesmal störte Sera die ruppige Fahrweise ihres Kollegen nicht, im Gegenteil. Zum Glück war Sonntag, und es gab keinen Berufsverkehr, dennoch schien es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis ihr Ziel endlich in Sicht kam.
Warum hast du es eilig? Sera ließ von ihrer Prellung ab, deren Schmerz langsam erlosch. Wenn hinter der Entführung von Bodkema der gleiche Täter steckt, ist der Chefredakteur längst tot.
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