Kalte Haut
Sera.
»Ich habe ihn nur von der Seite gesehen.«
»Ist Ihnen etwas an ihm aufgefallen?«
»Er sah ganz normal aus. Eine Jeans, ein Hemd, eine Jacke … Aber ich habe nicht genauer auf ihn geachtet, weil Papa herumalberte.«
»Wie groß war der Mann?«
»Vielleicht einen Meter achtzig. Könnte aber auch größer gewesen sein.«
»Und wie alt?«
»Dreißig oder vierzig, aber das ist schwer zu sagen.«
»War er allein?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Wir haben Experten, die Ihnen helfen werden, sich an die Person zu erinnern. Möglicherweise können wir dann ein Fahndungsporträt erstellen, also eine Phantomzeichnung.«
»Aber ich habe ihn doch kaum gesehen.«
Trotzdem wäre es mehr, als wir bisher in den Händen halten. Sera schaltete ihr Handy ein, um den Polizeizeichner beim Landeskriminalamt zu verständigen. Zwischenzeitlich waren zwei Anrufe eingegangen. Einer von Gerry. Einer von Blundermann.
Ihr Kollege hatte eine Nachricht hinterlassen. »Sera, wo steckst du? Melde dich. Es ist dringend!«
Sein Tonfall gefiel ihr nicht. Sie rief ihn sofort zurück.
»Sera, seid ihr schon auf dem Rückweg?«
»Nein, aber wir haben möglicherweise eine Zeugin, die den Mörder gesehen hat.«
»Werner soll sich darum kümmern. Du musst nach Mitte kommen. Es hat einen Einbruch gegeben.«
»Entschuldige, David, aber das hier ist doch wohl wichtiger als ein Einbruch?«
»Das denke ich nicht. Und du wirst mir zustimmen, wenn du hörst, bei wem eingebrochen wurde.«
98
Tania verließ das Verlagsgebäude später als geplant. In einer schnell einberufenen Redaktionssitzung war die morgige Kurier- Ausgabe besprochen worden.
Auf der Titelseite würde, so hatte man gemeinschaftlich entschieden, ein respektvoller Nachruf auf Stanislaw Bodkema erscheinen, außerdem ein Bericht, der unmissverständlich die Parallelen zum Fall Lahnstein aufzeigte. Im Innenteil sollten die beiden Folterfilme ausgewertet werden, illustriert mit schonungslosen Bildern, um den Druck auf die Polizei zu erhöhen. Daneben würde Tanias Chronik der Ereignisse platziert werden.
Im Anschluss hatten sie Schlagzeilen vorgeschlagen. Weil Fakten fehlten, klang eine reißerischer als die andere. Am Ende einigte man sich auf die wütende Forderung: Schnappt die Bestie!
Als die Kollegen sich um die Nachtschicht zu streiten begannen –jeder wollte für den Fall, dass sich in den kommenden Stunden etwas Neues ergab, der Erste sein, der die Nachricht verbreitete –, suchte Tania das Weite. Sie hatte genug von Gewalt und Mord.
Der Regen draußen störte sie nicht. Für sie fühlte er sich wie eine Reinigung an, die die Welt von allem Schmutz befreite. Freilich nur eine Illusion, aber für den Augenblick eine angenehme. Denn Ralf ist tot. Sie verspürte keine Angst mehr. Wenn das kein Grund zur Erleichterung ist, was dann? Diesmal schämte sie sich nicht für den Gedanken.
Natürlich war die Sache mit Bodkema schlimm, und Tania wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Mörder, diese Bestie, die auch mit dir widerlichen Schabernack treibt, geschnappt wurde, aber es war an der Zeit, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Es ist vorbei.
Sie winkte einem Taxi und ließ sich zur Französischen Straße kutschieren. Unterwegs nahm der Niederschlag an Heftigkeit zu, deshalb sprintete sie über den Bürgersteig zum Hauseingang.
Tania rannte die Treppe hinauf in die vierte Etage. »Hagen, ich bin da!«
Ihr Freund antwortete nicht. Doch in der Küche brannte Licht, und der Duft einer Salamipizza erfüllte die Diele.
Tania legte ihre Tasche auf die Kommode, trat ins Bad und griff nach einem Handtuch. Während sie ihr Haar trocknete, ging sie in die Küche.
»Hagen, bist du hier?«
Auf dem Backofen lag eine Pizzaschachtel. Tania hob den Deckel. Die Pizza war kalt und unangetastet. Obwohl sie gesagt hatte, dass er nicht mit dem Essen auf sie zu warten bräuchte, hatte er es getan. Sie freute sich darüber. Er ist ein Schatz.
»Hey, Hagen, wo steckst du?«
Mit dem Handtuch auf dem Kopf lief sie in den Raum gegenüber. Wahrscheinlich hatte er sich hingelegt und war eingenickt, während er auf sie gewartet hatte. Doch das Schlafzimmer war dunkel, das Bett leer.
Sie warf das Handtuch auf die Kissen.
»Hagen?«
Pochenden Herzens ging sie ins Wohnzimmer. Die Vorhänge waren nicht vor die Fenster gezogen. Das Licht von der Straßenlaterne fiel in einem geraden Dreieck auf den Boden. Etwas lag auf dem Teppich.
Ihre Hand fand den Lichtschalter.
99
Die
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