Kalte Haut
Violent Crime Linkage Analysis System und stand für ein Analysesystem zum Verknüpfen von Gewaltdelikten; eine internationale Datenbank, in der Tatort- und Opfermerkmale eingetragen wurden, damit ein Zusammenhang zwischen Serienstraftaten effektiv und schnell hergestellt werden konnte.
»Jacobs hat seinen Opfern die Haut vom Leib gezogen«, rang sich der Psychologe doch schließlich zu einer Erklärung durch. »Ein Journalist der New York Times kam auf die Idee, ihm diesen Namen zu verpassen: der Knochenmann. Er hat seine Opfer gehäutet. Bis auf die Knochen sozusagen. Die Bezeichnung las sich besser in den Überschriften.«
Unwillkürlich drehte Sera sich noch einmal zu der Bahre im Obduktionssaal um. Unter dem weißen Laken zeichnete sich der geschundene Leichnam des Politikersohns ab. »Dr. Wittpfuhl, war es das, was Ihnen bereits heute Mittag in dem Lagerhaus an der Leiche aufgefallen ist?«
»Ja, es machte mich stutzig.« Der Gerichtsmediziner stieß die Tür zum Flur auf. Das grelle Licht, das sich auf den sterilen Fliesen spiegelte, schmerzte in den Augen. »Sie können sich denken, dass ich schon viele Leichen auf meinem Tisch liegen hatte. Aber eine, der man die Haut vom Körper gezogen hat …«
»Vom Torso!«, verbesserte der Psychologe.
»Ja, genau, vom Hals über die Schulter bis hinunter zum Beckenkamm – vom Leib gezogen wie ein Overall. So etwas hatte ich noch nie. Als ich dann heute Mittag plötzlich die Leiche vom jungen Lahnstein gesehen habe, musste ich unweigerlich an den Knochenmann denken. Der Fall wurde ja mehrfach und ausführlich von den Kollegen in der Fachpresse erörtert.«
Ein Mann mit Koteletten und gewaltigem Bauch, über den sich sein weißer Kittel wölbte, watschelte über den Flur auf sie zu. Leise wechselte er einige Worte mit Dr. Wittpfuhl, der eine Unterschrift leistete, bevor der Mann sich wieder davonmachte.
»Dr. Babicz«, begann Sera, »denken Sie etwa, Jacobs …«
»Nein!«, unterbrach der Psychologe. »Er ist gefasst worden.«
»Woran Sie einen nicht unwesentlichen Anteil hatten«, lobte der Gerichtsmediziner.
Sera schaute die beiden abwechselnd fragend an, während sie den Obduktionssaal verließen.
Es war Dr. Wittpfuhl, der erklärte: »Dr. Babicz war in die Ermittlungen des FBI involviert.«
»Jacobs sitzt jetzt hinter Schloss und Riegel«, sagte Babicz, während er weiterhin seine Finger massierte. »Die Verhandlung beginnt demnächst. Ihn erwartet die Todesstrafe.«
»Also kann er es nicht gewesen sein«, stellte der Gerichtsmediziner fest.
Sie erreichten den Ausgang. Die andächtige Stille im Rechtsmedizinischen Institut wurde abrupt durch den Großstadtlärm draußen abgelöst. Der Totenstille folgte die Geräuschkulisse der Industriegesellschaft: ratternde S-Bahnen, quietschende Taxen, Busse und Autos, Touristengruppen.
Der Wind trieb eine Einkaufstüte über den fast leeren Parkplatz. Gesing lehnte amüsiert an der Stoßstange des Passats. Blundermann, der inzwischen eingetroffen war, erzählte ihm einen Witz.
Sera war nicht nach Lachen zumute. »Dennoch ist auch Ihnen eine Ähnlichkeit zu Jacobs’ Morden aufgefallen, Dr. Babicz, oder?«
»Ja und nein.« Der Psychologe löste endlich seine Finger voneinander, knöpfte seinen Parka zu und vergrub die Hände in den Taschen. »Wie ich schon sagte, die Parallele ist ungewöhnlich, geradezu erstaunlich. Deshalb stimme ich Herrn Dr. Wittpfuhl zu: Wir sehen viel in unserem Beruf, aber auf einen Killer, der sein Opfer häutet, treffen wir äußerst selten. Das stimmt nachdenklich.«
»Wie nachdenklich?«, hakte Sera ungeduldig nach.
»Nun ja, es gibt schon einen entscheidenden Unterschied zwischen den Opfern: Jacobs war Mediziner, ein ehemaliger Schönheitschirurg. Bei seinen Taten ging er wie ein professioneller Chirurg vor.« Babicz hob die Schultern bis an die Ohren und rollte mit dem Kopf, als wollte er Verspannungen im Nacken lösen. »Und nicht zu vergessen: Jacobs hat seine Opfer nicht gefoltert. Er tötete sie, indem er ihnen die Kehle durchschnitt, bevor er sie fachmännisch häutete.«
»Was war sein Motiv?«
»Bei den Vernehmungen hat er kein Wort darüber verloren. Wir wissen aber, dass er vor Jahren aufgrund eines Kunstfehlers seine Approbation verloren hat. Er behauptete, es sei unverschuldet gewesen. Wie auch immer, er durfte nicht mehr praktizieren. Vermutlich war dies der Auslöser für seine Morde –er wollte den Beweis liefern, dass er als Chirurg sehr wohl etwas
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