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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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verliehen dem Reihenhaus in der Falkensteinstraße einen Glanz, den es bei Tageslicht nicht ausstrahlte. Sera konnte sich nicht daran erinnern, wann der Eigentümer die graue Fassade zuletzt hatte streichen lassen. Als Kind war ihr das nie aufgefallen. Aber damals hast du dich von vielen Dingen noch nicht stören lassen.
    »Und was ist mit deinem Kollegen?« Seras Mutter sah in Richtung Passat. »Möchtest du ihn nicht hereinbitten?«
    »Er wollte gerade fahren.«
    »Aber er ist doch dein Kollege.«
    »Ebendeshalb«, sagte Sera. »Er muss noch arbeiten.«
    »Aber er muss doch mal eine Pause machen.«
    »Also, ich weiß nicht?« Gesing schielte unsicher zu Sera.
    »Kommen Sie!« Annecim lächelte einnehmend. »Es gibt zu essen und zu trinken.«
    Was ist gegen derlei überzeugende Argumente auszurichten? Sera gab sich geschlagen. Vielleicht war es sogar ganz gut, dass Gesing sie begleitete. Seine Anwesenheit würde sie bei der Begegnung mit einigen Leuten – Onkel Mergim! – vielleicht zügeln.
    Bereits im Hauseingang hallten ihnen die Stimmen der Verwandtschaft entgegen. Kindergeschrei übertönte das laute Palaver der Erwachsenen. Seras Mutter ging voraus ins Wohnzimmer.
    »Also«, zischte Gesing und blieb in der Diele stehen. »Kann es nicht doch sein, dass sie mich tatsächlich für deinen, also, ich meine …«
    »Hoffentlich nicht«, knurrte Sera.
    Ihr Neffe Eldin, der kleine Chaosfußballer, baute sich breitbeinig vor Gesing auf. »Du bist der Polizist.«
    »Ja, der bin ich.«
    »Kommst du, um jemanden zu verhaften?«
    »Wieso?« Gesing lachte. »Gibt es hier denn jemanden zu verhaften?«
    Seras Blick fiel unwillkürlich ins Wohnzimmer, wo sie Onkel Mergim am Tisch entdeckt hatte. Während die Familie munter durcheinanderschnatterte, brütete er über seinem Çay.
    Was immer Sera erwartet hatte, Erleichterung verspürte sie bei seinem Anblick nicht. Schon möglich, dass sie sich in ihm geirrt und Mergim nichts mit dem Tod von Frank Lahnstein zu tun hatte. Dennoch ist er nicht frei von Schuld.
    »Herr Gesing, wo bleiben Sie denn? Ich stelle Ihnen die Familie vor.« Annecim nahm ihn in Beschlag.
    »Abla!«, rief Kayra aus der Küche. »Hilf mir doch, bitte.«
    Sera eilte zu ihrer großen Schwester. Gemeinsam hievten sie ein Tablett voller Baklava aus dem Backofen. Baklava war Annecims Spezialität. Blätterteig und gehackte Walnüsse, am besten serviert mit schwarzem Mokka.
    »Wen hast du denn da mitgebracht?«, flüsterte Kayra.
    »Das ist ein Kollege von mir.«
    »Ein Kollege?«
    »Ja, nur ein Kollege. Da brauchst du gar nicht mit den Augen zu rollen.«
    »Ich meine ja nur: Was wird Baba dazu sagen?«
    »Wo ist er überhaupt?«
    »In deinem Zimmer.«
    Im Gegensatz zu den Räumen ihrer Schwestern Kayra und Deniz, die von Baba nach deren Auszug zu Gästezimmern umfunktioniert worden waren, hatte er Seras Kinderzimmer bis heute unberührt gelassen. Wenn Kinder zu Besuch kommen, können sie darin spielen , wurde Annecim nicht müde zu erklären. Die Wahrheit war wohl eher folgende: Solange Sera nicht wie ihre Schwestern verheiratet war und Kinder geboren hatte, solange also ihr Leben nicht in geordneten Bahnen verlief, würde es für ihren Vater keinen Grund geben, ihr Kinderzimmer aufzugeben.
    Er saß auf Seras altem Jugendbett und las Alisa und Mina aus dem Einäugigen König vor, einer Sammlung türkischer Märchen von Özdemir Basargan. Gebannt hingen Seras Nichten an seinen Lippen. Er schaute von dem Buch auf, ohne in seiner Erzählung innezuhalten. Nach all den Jahren kannte er sie auswendig. Die Sätze wanden sich schillernden Wortgirlanden gleich um seine Lippen, die von einem dichten grauen Vollbart umrahmt wurden.
    Sera ließ sich neben den Mädchen nieder. Es dauerte nicht lange, und sie war wie Alisa und Mina von der Geschichte gefangen. Er besitzt dieses Talent noch immer. Als Sera ein kleines Kind gewesen war, hatte sie nichts lieber gemocht, als Babas Märchen zu lauschen. Ihr Vater hatte eine tiefe, sonore Stimme, die Zuhörer vom ersten Satz an fesselte – manchmal mehr als die Geschichte selbst. In diesem Punkt, zugegeben einem nicht unerheblichen, war er Gerry sehr ähnlich. Sollte mir das zu denken geben?
    Als Baba endete und das Buch zuklappte, zogen Seras Nichten lange Gesichter. Er vertröstete sie auf später. Die beiden Mädchen zogen enttäuscht von dannen.
    »Doğum günün kutlu olsun.« Sera umarmte ihren Vater. »Alles Gute zum Geburtstag.«
    »Seray, danke.«
    »Ich hoffe, du

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