Kalte Herzen
ich muß mit dir reden!«
»Victor«, flüsterte sie, doch er konnte sie nicht hören.
Niemand konnte sie hören.
Sie lag auf dem Badezimmerfußboden, zu schwach, um sich zu rühren, zu schwach, um ihn zu rufen.
Sie spürte nur, wie das Herz in ihrer Brust flatterte wie Schmetterlingsflügel.
»Das kann es nicht sein«, sagte Abby.
Sie saß in Katzkas Wagen, der in einer heruntergekommenen Straße in Roxbury parkte, einem Viertel mit verbarrikadierten Fassaden und Firmen kurz vor dem Bankrott. Das einzig offenkundig florierende Unternehmen war ein Bodybuilding-Studio ein paar Häuser die Straße hinunter. Durch die offenen Fenster hörten sie das Klappern der Gewichte und hin und wieder männliches Gelächter. An das Studio grenzte ein unbewohntes Gebäude mit einem Zu-vermieten-Schild im Fenster. Daneben erhob sich das dreigestöckige Amity-Gebäude aus braunem Sandstein. Über dem Eingang prangte ein Schild
»AMITY MEDIZINISCHER BEDARF.
VERKAUF UND BERATUNG«.
Hinter den vergitterten Fenstern sah man eine verstaubte Ausstellung der Firmenprodukte: Krücken und Stöcke, Sauerstoffflaschen, Schaumstoffmatratzen gegen Wundliegen, Nachtschränkchen, eine Schaufensterpuppe in einer Schwesterntracht, die aus den sechziger Jahren zu stammen schien.
Abby blickte über die Straße auf das schäbige Schaufenster und sagte: »Das kann nicht die richtige Amity sein.«
»Es ist die einzige Firma dieses Namens im Telefonbuch«, erwiderte Katzka.
»Warum sollte er fünf Millionen Dollar an dieses Unternehmen überweisen?«
»Es könnte ein Tochterunternehmen einer größeren Firma sein. Vielleicht war es eine günstige Anlagemöglichkeit.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Timing spricht dagegen.
Versetzen Sie sich in Victor Voss’ Lage. Seine Frau liegt im Sterben, er versucht verzweifelt, ihr die benötigte Operation zu verschaffen. Da würde er doch nicht über Anlageobjekte nachdenken.«
»Es kommt darauf an, wie sehr er seine Frau liebt.«
»Er liebt sie sehr.«
»Woher wissen Sie das?«
Sie schaute ihn an. »Ich weiß es.«
Katzka betrachtete Abby auf seine ruhige Art. Seltsam, dachte sie, daß sein Blick ihr nicht mehr unbehaglich war.
Er öffnete die Tür. »Ich werde sehen, was ich herausfinden kann.«
»Was haben Sie vor?«
»Mich mal umsehen. Ein paar Fragen stellen.«
»Ich komme mit.«
»Nein, Sie bleiben im Wagen.« Er wollte aussteigen, aber sie hielt ihn zurück.
»Hören Sie«, erklärte sie, »Ich bin diejenige, die alles zu verlieren hat. Meinen Job habe ich schon verloren, meine Approbation wird in Kürze folgen. Und jetzt nennt man mich eine Mörderin, Psychopathin oder beides. Es ist mein Leben, das zugrunde gerichtet wird. Dies könnte meine einzige Chance sein, mich zu wehren.«
»Dann wollen wir es doch nicht vermasseln, oder? Irgend jemand da drin könnte Sie erkennen. Dann wären die garantiert gewarnt. Wollen Sie das riskieren?«
Sie ließ sich in den Sitz zurücksinken. Katzka hatte recht. Er hatte leider recht. Er war schon dagegen gewesen, daß sie überhaupt mitkam, aber sie hatte darauf bestanden. Sie hatte ihm erklärt, daß sie auch selbst hierherfahren könnte, mit oder ohne ihn. Und jetzt saß sie da und durfte nicht mal mit in das Gebäude. Sie konnte nicht einmal mehr ihre eigenen Schlachten schlagen. Das hatten sie ihr auch noch genommen. Abby saß kopfschüttelnd da, wütend über ihre Ohnmacht und wütend auf Katzka, der sie darauf hingewiesen hatte.
»Verriegeln Sie die Tür«, forderte er sie auf und stieg aus.
Sie beobachtete, wie er die Straße überquerte und das Gebäude durch den unscheinbaren Eingang betrat. Abby malte sich aus, was er drinnen vorfinden würde: deprimierende Reihen von Rollstühlen und Spucknäpfen, Kleiderstangen, an denen sich unter vergilbten Plastikschutzhüllen Schwesternuniformen reihten, Kartons mit orthopädischen Schuhen. Sie konnte es sich bis in alle Einzelheiten vorstellen, weil sie ihre ersten Berufskleider in Läden wie diesem gekauft hatte.
Fünf Minuten verstrichen. Dann zehn.
Katzka, Katzka. Was machen Sie da drinnen? Er hatte erklärt, daß er ein paar Fragen stellen wollte, ohne Argwohn zu wecken.
Sie vertraute seinem Urteil. Im Schnitt waren Ermittler im Morddezernat wahrscheinlich intelligenter als Chirurgen, entschied sie. Aber vielleicht nicht intelligenter als Internisten.
Das war ein Standardwitz unter allen Krankenhausbelegschaften: die Dummheit der Chirurgen. Internisten verließen sich auf ihr Hirn,
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