Kalte Herzen
weiter etwas vor und floh am Morgen aus dem Haus.
Genau wie Abby heute.
Sie ließ den Wagen stehen und ging statt dessen zu Fuß, von Block zu Block, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, wohin sie ging. Am Vorabend war es kühl geworden, so daß Abbys Gesicht taub vor Kälte war, als sie schließlich in einem Café einkehrte. Sie bestellte eine Tasse Kaffee und ein Sesambrötchen und setzte sich an einen der Tische. Eben hatte sie zwei Bissen genommen, als ihr Blick auf einen Mann am Nebentisch fiel, der den
Boston Herald
las.
Auf der Titelseite prangte Abbys Foto.
Am liebsten hätte sie sich in ein Mauseloch verzogen. Sie sah sich verstohlen um und erwartete förmlich, daß jeder sie anstarren würde, was jedoch niemand tat.
Da sprang sie von ihrem Tisch auf, warf das Brötchen in den Müll und verließ das Café. Sie hatte plötzlich keinen Appetit mehr. An einem Zeitungskiosk ein Stück die Straße hinunter kaufte sie einen
Herald
und drückte sich zitternd in einen Hauseingang, während sie den Artikel überflog.
Führte Streß bei Chirurgenausbildung zu Tragödie?
Dr. Abigail DiMatteo war eine allseits anerkannte Assistenzärztin – eine der besten am Bayside-Hospital, wie Dr. Colin Wettig, der Leiter des Ausbildungsprogrammes, bestätigt. Doch irgendwann in den vergangenen zwei Monaten, kurz nach Beginn von Dr. DiMatteos zweitem Jahr als Assistenzärztin, nahm eine schreckliche Fehlentwicklung ihren Lauf …
Abby mußte innehalten. Ihr Atem ging heftig und stoßweise.
Sie brauchte einen Moment, bis sie sich so weit beruhigt hatte, daß sie den Artikel zu Ende lesen konnte. Danach war ihr richtig übel.
Die Reporter hatten nichts ausgelassen. Die Klagen, Mary Aliens Tod, die Auseinandersetzung mit Brenda. Nichts von alldem ließ sich leugnen. Alle Einzelaspekte ergaben zusammen das Bild einer instabilen, ja sogar gefährlichen Persönlichkeit.
Ich kann nicht glauben, daß ich es bin, über die sie da schreiben, dachte sie bestürzt.
Selbst wenn es ihr gelang, ihre medizinische Zulassung zu behalten und vielleicht sogar ihre Ausbildung zur Fachärztin abzuschließen, würde ihr ein solcher Artikel auf ewig anhängen, genau wie die Zweifel. Kein Patient würde sich bei klarem Verstand unter das Messer einer Psychopathin legen.
Sie wußte nicht, wie lange sie mit der Zeitung in der Hand umherlief. Als sie schließlich anhielt, stand sie auf dem Gelände der Harvard University, und ihre Ohren schmerzten vor Kälte.
Es war schon weit nach Mittag. Abby war den ganzen Vormittag herumgelaufen, und jetzt war der halbe Tag vorbei.
Sie wußte nicht, wohin sie als nächstes gehen sollte. Alle anderen auf dem Campus – Studenten mit Rucksäcken und zerstreute Professoren in Tweed – schienen ein Ziel zu haben.
Nur sie nicht.
Sie blickte erneut auf die Zeitung. Das verwendete Foto stammte aus dem Verzeichnis der Assistenzärzte. Es war ein Bild, das während ihres Praktikums aufgenommen worden war.
Sie lächelte direkt in die Kamera, das frische und tatdurstige Gesicht einer jungen Frau, die bereit war, für ihren Traum zu arbeiten.
Abby warf die Zeitung in den nächsten Papierkorb und ging mit dem Gedanken nach Hause: Wehr dich. Du mußt dich wehren!
Doch ihr und Vivian waren die Spuren ausgegangen, die sie hätten verfolgen können. Gestern war Vivian nach Burlington geflogen. Als sie Abby am Abend angerufen hatte, hatte sie schlechte Nachrichten gehabt. Tim Nicholls hatte seine Praxis geschlossen, und niemand wußte, wo er war. Diese Spur war eine Sackgasse. Und im Wilcox Memorial gab es keine Unterlagen über Organentnahmen an den entsprechenden Terminen.
Schließlich hatte Vivian bei der örtlichen Polizei erfahren, daß es keine Berichte über vermißte Personen oder unidentifizierte Leichen gab, denen man das Herz herausgeschnitten hatte.
Noch eine Sackgasse.
Sie haben ihre Spuren verwischt. Wir werden sie nie schlagen.
Als sie zur Haustür hereinkam, sah sie schon von weitem, daß der Anrufbeantworter blinkte. Es war eine Nachricht von Vivian, die um Rückruf unter einer Nummer in Burlington bat.
Abby wählte die Nummer, aber niemand nahm ab.
Als nächstes rief sie die NEOB an, doch wie üblich wollte man sie nicht zu Helen Lewis durchstellen. Offenbar wollte niemand die neuesten Theorien der psychopathischen Dr. DiMatteo hören. Sie ging die Liste der Menschen durch, die sie am Bayside kannte. Mark, Mohandas und Zwick, Susan Casado, Jeremiah Parr. Sie traute keinem von ihnen.
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