Kalte Herzen
Kopf in die Hände sinken und starrte auf den Stapel mit Krankenhausblättern, auf denen kleine Zettelchen mit den Anweisungen der Ärzte klebten. Die Assistenzärzte liebten es, Verordnungen zu schreiben. Sie kamen mit ihren schicken Kulis hereingefegt und notierten solch weltbewegende Anweisungen wie: »Magnesiumsuspension gegen Verstopfung«
oder »Nachts Bettgitter hochklappen«. Dann überreichten sie die mit ihren Verordnungen versehenen Krankenblätter der Schwester, als ob sie Gott wären, der Moses die Tafeln mit den zehn Geboten präsentierte.
Seufzend griff Wendy nach dem ersten Blatt.
Das Telefon klingelte. Wehe, wenn das wieder die verdammten Gören sind, dachte sie. Nicht noch ein Mammi-er-haut-mich-Anruf. Sie meldete sich mit einem gereizten: »Ost Sechs, Wendy.«
»Hier ist Dr. Wettig.«
»Oh.« Wendy richtete sich automatisch auf. Wenn man mit Dr. Wettig sprach, lümmelte man sich nicht in seinem Stuhl herum, selbst wenn er nur am Telefon war. »Ja, Doktor?«
»Ich möchte den Blutalkoholspiegel von Dr. DiMatteo weiter im Blick halten. Und ich will, daß die Proben an die MedMark Laboratorien geschickt werden.«
»Nicht an unser eigenes Labor?«
»Nein, schicken Sie es direkt an MedMark.«
»Selbstverständlich, Doktor«, erklärte Wendy und notierte die Anweisung. Sie war ungewöhnlich, aber Entscheidungen des Generals zweifelte man nicht an.
»Wie geht es ihr?« fragte er.
»Sie ist ein wenig unruhig.«
»Hat sie versucht, das Krankenhaus zu verlassen?«
»Nein. Sie ist nicht einmal aus ihrem Zimmer gekommen.«
»Gut. Sorgen Sie dafür, daß sie dort bleibt. Und absolut keine Besucher. Das schließt auch das medizinische Personal ein, mit Ausnahme der Personen, die ich in meinen Anweisungen ausdrücklich benenne.«
»Ja, Dr. Wettig.«
Wendy legte auf und starrte auf ihren Schreibtisch. Während des kurzen Anrufs waren drei weitere Krankenblätter mit Verordnungen auf ihren Tisch gelegt worden. Verdammt, sie würde noch den ganzen Abend mit den blöden Verordnungsbögen zu tun haben. Auf einmal war ihr ganz flau vor Hunger.
Sie hatte noch immer nicht zu Mittag gegessen, ja noch nicht einmal eine Pause gemacht.
Wendy blickte sich um und sah zwei Schwestern im Flur miteinander schwatzen. War sie eigentlich die einzige, die hier arbeitete?
Sie legte die Anweisung für den Blutalkoholtest in das Fach für die Laborassistenten. Als sie vom Schreibtisch aufstand, fing das Telefon erneut an zu klingeln. Sie ignorierte es; dafür waren schließlich die Stationssekretärinnen zuständig.
Als sie sich entfernte, klingelte es schon auf zwei Leitungen.
Sollte doch einmal jemand anders das verdammte Telefon abnehmen.
Der Vampir war zurück. Sie trug ihr Tablett mit Röhrchen, Laborstreifen und Nadeln. »Tut mir leid, Dr. DiMatteo, aber ich muß Sie noch einmal pieksen.«
Abby stand am Fenster, sah die Famulantin kurz an und wandte den Blick dann wieder nach draußen. »Das Krankenhaus hat mir schon sämtliches Blut aus den Adern gezogen«, sagte sie und betrachtete den trüben Ausblick. Krankenschwestern hasteten mit wehenden Haaren und im Wind flatternden Regenmänteln vom Parkplatz zum Eingang des Krankenhauses.
Im Osten hatten sich schwarze, bedrohliche Wolken zusammengeballt. Abby fragte sich, ob der Himmel nie mehr aufreißen würde.
Hinter sich hörte sie das Klimpern von Glasgefäßen. »Doktor, ich muß Ihnen wirklich nochmals Blut abnehmen.«
»Ich brauche keine weiteren Tests mehr.«
»Aber Dr. Wettig hat es angeordnet«, beharrte die Laborantin und fügte mit einem leisen Unterton der Verzweiflung hinzu:
»Bitte machen Sie es mir nicht unnötig schwer.«
Abby drehte sich um und sah die Frau an. Sie wirkte sehr jung und erinnerte Abby an sich selbst vor langer Zeit. Einer Zeit, als auch sie noch Angst vor Dr. Wettig gehabt hatte, Angst davor, das Falsche zu tun und alles zu verlieren, wofür sie gearbeitet hatte. Vor all diesen Dingen hatte sie jetzt keine Angst mehr.
Aber diese Frau hatte noch Angst davor.
Seufzend ging Abby zum Bett und setzte sich. Die Laborantin stellte ihr Tablett mit Blutproben auf dem Nachttisch ab und bereitete eine Einwegspritze und sterile Mullpads vor. Nach den bereits mit Blutproben gefüllten Röhrchen zu urteilen, hatte sie diese Prozedur heute schon ein dutzendmal absolviert. Es waren nur noch wenige leere Gefäße übrig.
»Welcher Arm ist Ihnen lieber?«
Abby streckte den linken Arm aus und beobachtete teilnahmslos, wie das Tourniquet
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