Kalte Herzen
Herzinsuffizienz ankämpfte. Abby hängte das Brett wieder an den Haken. Als sie sich aufrichtete, sah sie, daß Ninas Augen geöffnet waren und sie anblickten.
»Hallo, Mrs. Voss«, grüßte Abby.
Nina lächelte und murmelte: »Die Ärztin, die immer die Wahrheit sagt.«
»Wie fühlen Sie sich?«
»Zufrieden.« Nina seufzte. »Ich bin zufrieden.«
Abby trat an ihr Bett. Sie sahen sich an, ohne zu sprechen.
Dann meinte Nina: »Sie brauchen es mir nicht zu sagen. Ich weiß es schon.«
»Was wissen Sie, Mrs. Voss?«
»Daß es fast zu Ende ist.« Nina schloß die Augen und atmete tief ein.
Abby ergriff die Hand der Frau. »Ich hatte nie Gelegenheit, Ihnen zu danken. Dafür, daß Sie versucht haben, mir zu helfen.«
»Ich habe versucht, Victor zu helfen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er ist wie dieser Held aus der griechischen Mythologie, der in den Hades gegangen ist, um seine Frau zurückzuholen.«
»Orpheus?«
»Ja. Victor ist wie Orpheus. Er will mich zurückholen. Es ist ihm egal, was es kostet.« Sie öffnete die Augen, und ihr Blick war auf einmal ganz klar. »Am Ende«, flüsterte sie, »wird es ihn zu viel kosten.«
Abby begriff sofort, daß sie nicht von Geld redeten. Sie sprachen von Seelen.
Plötzlich ging die Tür auf. Abby drehte sich um und sah eine Schwester, die sie überrascht musterte.
»Oh! Dr. DiMatteo, was machen Sie denn …« Sie registrierte die zugezogenen Vorhänge und überprüfte mit einem raschen Blick alle Monitore und Infusionsschläuche.
»Ich habe nichts angerührt«, beteuerte Abby, die ihre Gedanken las.
»Würden Sie bitte gehen!«
»Ich habe Mrs. Voss nur besucht. Ich habe gehört, daß sie wieder in der Intensivchirurgie liegt und –«
»Mrs. Voss braucht Ruhe.« Die Schwester öffnete die Tür und bat Abby zügig aus dem Zimmer. »Haben Sie das Schild nicht gelesen?
Besuche verboten!
Sie soll heute nacht operiert werden und darf nicht gestört werden.«
»Was denn für eine Operation?«
»Die Retransplantation. Sie haben einen neuen Spender gefunden.«
Abby starrte auf die geschlossene Tür von Raum acht und fragte leise: »Weiß Mrs. Voss es?«
»Was?«
»Hat sie das Formular mit der persönlichen Einwilligung zu der Operation unterschrieben?«
»Ihr Mann hat es bereits für sie unterschrieben. Und jetzt gehen Sie bitte sofort.«
Abby drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ die Station. Sie wußte nicht, ob schon irgend jemand bemerkt hatte, daß sie weg war; sie ging einfach den Flur hinunter bis zu den Aufzügen. Die Tür eines Aufzugs ging auf, die Kabine war voller Menschen. Abby stieg ein, drehte den Mitfahrenden rasch den Rücken zu und starrte die Tür an.
Sie haben einen Spender gefunden, dachte sie, während der Fahrstuhl abwärts schwebte. Irgendwie haben sie einen Spender gefunden. Heute nacht wird Nina Voss ein neues Herz bekommen.
Als sie die Halle erreichte, hatte sie bereits eine recht klare Vorstellung von der Abfolge der Ereignisse, die heute noch vonstatten gehen würden. Sie hatte die Akten der anderen Transplantationen am Bayside studiert und wußte, was passieren würde: Irgendwann gegen Mitternacht schob man Nina in den OP, wo Archers Team sie für die Operation vorbereitete. Dann warteten sie auf den Anruf. Zur selben Zeit stand ein anderes Team von Chirurgen schon um einen anderen Patienten versammelt. Sie griffen zu den Skalpellen und durchtrennten Haut und Muskeln. Eine Knochensäge knirschte, ein Brustkorb wurde aufgeklappt, um den darin liegenden Schatz zu offenbaren: ein lebendes, schlagendes Herz.
Die Entnahme würde glatt und sauber verlaufen.
Heute nacht, dachte sie, wird des genauso passieren, wie es schon oft passiert ist.
Die Fahrstuhltür öffnete sich. Abby stieg mit gesenktem Kopf aus, die Augen zu Boden gerichtet. Sie durchquerte die Halle bis zum Eingang und trat in den böigen Wind.
Zwei Blocks weiter suchte sie Schutz in einer Telefonzelle. Sie benutzte ihren wertvollen Schatz aus Fünf- und Zehn-Cent-Stücken, um Katzka anzurufen.
Er war nicht an seinem Schreibtisch. Der Beamte am Apparat bot an, ihm eine Nachricht zu hinterlassen.
»Hier ist Abby DiMatteo«, sagte sie. »Ich muß sofort mit ihm sprechen! Hat er nicht einen Pieper oder irgendwas?«
»Ich werde Sie mit der Zentrale verbinden.«
Es klickte zweimal, und die Zentrale meldete sich. »Ich lasse ihn über Funk ausrufen«, erklärte die Telefonistin.
Nach einer Weile erklärte sie: »Tut mir leid, Detective Katzka hat sich
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