Kalte Herzen
um ihren Oberarm festgezogen wurde.
Sie machte eine Faust, die Vene trat hervor, zerstochen von früheren Blutabnahmen. Als die Nadel in ihre Haut stach, wandte Abby sich ab und betrachtete statt dessen das Tablett der Laborantin mit all den ordentlich beschrifteten Blutproben. Wie die Pralinenschachtel eines Vampirs.
Plötzlich fiel ihr eine der Proben ins Auge. Es war ein Röhrchen mit einem violetten Verschluß. Sie starrte auf die Beschriftung:
Nina Voss, Chirurgische Intensivstation, Bett acht
»Das war’s schon«, sagte der Vampir und zog die Nadel heraus. »Können Sie den Mull auf die Wunde drücken?«
Abby blickte auf. »Was?«
»Halten Sie das bitte kurz fest, damit ich Ihnen ein Pflaster holen kann.«
Automatisch drückte Abby den Mull gegen ihren Arm. Sie sah wieder zu dem Röhrchen mit Nina Voss’ Blut. Der Name des behandelnden Arztes war in der Ecke des Schildes gerade noch zu entziffern: Dr. Archer.
Nina Voss ist wieder im Krankenhaus, dachte Abby. Sie liegt wieder in der Herzchirurgie.
Die Laborantin verabschiedete sich.
Abby lief zum Fenster und starrte auf die dunkler werdenden Wolken. Papierfetzen wurden über den Parkplatz geweht. Das Fenster klapperte unter dem Druck einer erneuten Böe.
Irgend etwas war schiefgelaufen mit Ninas neuem Herz. Sie hätte es schon vor Tagen erkennen müssen, als sie sie in der Limousine getroffen hatte. Sie erinnerte sich an Ninas Erscheinung im Halbdunkel des Wagens, das blasse Gesicht, die bläulich angelaufenen Lippen. Schon da hatte ihr Spenderorgan nicht mehr richtig funktioniert.
Abby lief zum Schrank und entnahm den blauen Plastikbeutel mit der Aufschrift »Eigentum der Patientin«. Er enthielt ihre Schuhe, ihre Hose und ihre Handtasche. Die Brieftasche fehlte und war vermutlich im Safe des Krankenhauses deponiert worden. Eine gründliche Durchsuchung der Handtasche förderte jedoch ein paar Zehn- und Fünf-Cent-Münzen zutage. Sie würde jede einzelne von ihnen brauchen.
Abby zog ihre Hose an, steckte ihr Nachthemd hinein und schlüpfte in die Schuhe. Dann ging sie zur Tür und spähte hinaus.
Schwester Soriano saß nicht an ihrem Tisch, doch zwei andere Schwestern waren am Tresen. Die eine telefonierte, die andere saß über irgendwelchem Papierkram. Keine sah in Abbys Richtung.
Abby blickte den Flur hinunter und sah, daß der Wagen mit den Tabletts für das Abendessen von einer ältlichen ehrenamtlichen Mitarbeiterin in Rosa klappernd auf die Station geschoben wurde. Vor dem Schwesterntresen kam der Wagen zum Stehen. Die Frau zog zwei Tabletts heraus und trug sie in das nächste Krankenzimmer.
In diesem Moment schlüpfte Abby auf den Flur. Der Wagen nahm den Schwestern die Sicht, als Abby ruhigen Schrittes an dem Tresen vorüberging und die Station verließ.
Sie konnte es nicht riskieren, in den Aufzügen entdeckt zu werden, und ging deshalb direkt auf das Treppenhaus zu.
Sechs Stockwerke stieg sie hoch in die elfte Etage. Direkt vor ihr lag der OP-Flügel, die chirurgische Intensivstation war gleich um die Ecke. Aus dem Wäschewagen im Flur zum OP nahm sie sich einen OP-Kittel, eine Haube und Schuhschoner.
Wenn sie sich wie alle anderen kleidete, würde sie vielleicht niemandem auffallen.
Sie bog um die Ecke und betrat die Station.
Drinnen herrschte das blanke Chaos. Der Patient in Bett zwei hatte einen Herzstillstand. Nach dem angespannten Staccato der Stimmen und dem Personal zu urteilen, das in das Zimmer stürmte, lief die Wiederbelebung nicht gut. Niemand sah in Abbys Richtung, als sie am Monitor-Kontrollraum vorbei zu Zimmer acht ging.
Sie blieb kurz vor dem Sichtfenster stehen, um sich zu vergewissern, daß in dem Bett tatsächlich Nina Voss lag, dann betrat sie das Zimmer. Die Tür fiel hinter ihr zu und dämpfte die Stimmen des Ärzteteams, das gegen den Herzstillstand ankämpfte. Abby zog die Vorhänge vor dem Sichtfenster zu und wandte sich zum Bett.
Nina schlief friedlich, ohne etwas von dem hektischen Treiben jenseits ihrer geschlossenen Tür mitzubekommen. Seit ihrer letzten Begegnung schien sie geschrumpft zu sein wie eine Kerze, die langsam von der Flamme ihrer Krankheit verzehrt wurde. Der Körper unter den Laken sah klein und zerbrechlich aus wie der eines Kindes.
Abby nahm das Klemmbrett am Fußende des Bettes, auf dem die Schwestern ihre Einträge machten. Mit einem Blick überflog sie die Daten: das langsam abfallende Herzminutenvolumen, die erhöhte Dosis von Dobutamin, mit der man vergeblich gegen die
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