Kalte Herzen
Uhr Morphium gegeben hatten. Offensichtlich war es nicht genug. Abby würde eine höhere Dosis verordnen müssen.
»Wir geben Ihnen noch mehr Schmerzmittel«, sagte sie. »So viel, wie Sie brauchen, um beschwerdefrei zu bleiben.«
»Und auch, damit ich schlafen kann. Ich kann nicht schlafen.«
Mary seufzte in tiefer Erschöpfung und schloß die Augen.
»Ich will einfach einschlafen, Doktor. Und nicht wieder aufwachen.«
»Mrs. Allen. Mary?«
»Könnten Sie das nicht für mich tun? Sie sind Ärztin. Sie könnten es mir so leicht machen. So leicht.«
»Wir können dafür sorgen, daß die Schmerzen aufhören«, sagte Abby.
»Aber den Krebs können Sie nicht wegmachen, oder?« Mary hatte ihre Augen wieder geöffnet, ihr Blick flehte Abby an, ihr die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.
»Nein«, sagte Abby. »Wegmachen können wir ihn nicht. Der Krebs hat sich schon zu weit im Körper verbreitet. Wir können Sie nur einer Chemotherapie unterziehen, um ihn aufzuhalten.
Um Zeit für Sie zu gewinnen.«
»Zeit?« Mary lachte resigniert. »Wofür brauche ich Zeit? Um hier noch eine Woche oder einen Monat länger zu liegen? Mir wäre es lieber, ich hätte es hinter mir.«
Abby nahm Marys Hand. Sie fühlte sich an wie fleischlose, in Pergament eingewickelte Knochen. »Zuerst wollen wir uns mal um die Schmerzen kümmern. Wenn wir das tun, sieht alles andere vielleicht auch gleich ganz anders aus.«
Statt zu antworten, wandte Mary sich einfach ab und drehte sich auf die Seite. »Ich nehme an, Sie wollen meine Lunge abhören«, sagte sie nur.
Sie wußten beide, daß die Untersuchung eine bloße Formalität war. Das Stethoskop auf der Brust über ihrem Herzen war eine nutzlose Zeremonie. Trotzdem absolvierte Abby sie. Außer Handauflegen hatte sie Mary Allen sonst wenig zu bieten. Als sie fertig war, hielt die Patientin ihr noch immer den Rücken zugewandt.
»Wir werden Sie aus der Wachstation in ein Zimmer auf der Normalstation verlegen. Dort wird es ruhiger sein. Es gibt da nicht so viele Störungen.«
Keine Antwort, nur ein tiefes Einatmen, ein langer Seufzer.
Als Abby das Zimmer verlassen hatte, fühlte sie sich besiegter und nutzloser denn je. Sie konnte so wenig tun. Schmerzfreiheit war das einzige, was sie Mary anbieten konnte. Das und das Versprechen, der Natur ihren Lauf zu lassen.
Sie schlug Marys Krankenblatt auf und notierte: »Patientin äußert den Wunsch zu sterben. Dosis Morphiumsulfat zur Schmerzkontrolle erhöht.« Sie unterschrieb die Verlegungsanweisung und gab sie Cecily, Marys Krankenschwester.
»Ich möchte, daß Sie sich wohl fühlt«, sagte Abby. »Stellen Sie die Dosis auf ihre Schmerzen ein. Geben Sie ihr genug, damit sie schlafen kann.«
»Was ist unsere Obergrenze?«
Abby zögerte und dachte an die dünne Linie zwischen Wohlbefinden und Bewußtlosigkeit, zwischen Schlaf und Koma.
»Keine Obergrenze«, sagte sie dann. »Sie stirbt, Cecily. Sie möchte sterben. Wenn das Morphium es ihr leichter macht, dann sollten wir ihr genau das geben. Selbst wenn es bedeutet, daß das Ende ein wenig schneller kommt.«
Cecily nickte, in ihren Augen lag ein Ausdruck unausgesprochener Zustimmung.
Als Abby gerade ins nächste Zimmer gehen wollte, hörte sie Cecily rufen: »Dr. DiMatteo?«
Abby drehte sich um. »Ja?«
»Ich … ich wollte Ihnen nur sagen, ich finde, Sie sollten wissen, daß … also …« Cecily sah sich nervös um und bemerkte, daß einige andere Schwestern der Intensivchirurgie sie beobachteten. Sie warteten. Cecily räusperte sich: »Ich wollte Sie wissen lassen, daß wir denken, Sie und Dr. Chao haben das Richtige getan, als Sie Josh O’Day das Herz gegeben haben.«
Abby blinzelte gegen die plötzlich aufsteigenden Tränen an.
»Danke«, flüsterte sie. »Vielen Dank.«
Erst als Abby sich jetzt umsah, bemerkte sie das allseitige beifällige Nicken.
»Sie sind eine der besten Assistenzärztinnen, die wir je hatten, Dr. DiMatteo«, sagte Cecily. »Wir finden, daß Sie auch das wissen sollten.«
In dem anschließenden verlegene Schweigen rührten sich einige Hände zum Applaus. Dann gesellten sich weitere hinzu, und dann noch mehr. Abby stand sprachlos da, das Krankenblatt an die Brust gedrückt, während sämtliche Schwestern der chirurgischen Intensivstation in lauten und spontanen Beifall ausbrachen. Sie applaudierten
ihr.
Es war ein brausender Applaus.
»Ich will, daß sie entlassen wird und aus diesem Krankenhaus verschwindet«, erklärte Victor Voss. »Und ich werde
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