Kalte Herzen
und um Jutland herum auf die Nordsee mit ihren Bohrinseln, die Montrose, Forties oder Piper hießen. Die Nordsee war größer, als Jakov sie sich vorgestellt hatte. Sie war nicht bloß eine blaue Pfütze wie auf der Karte, sondern zwei Tage lang sah er nichts als Wasser. Und der Steuermann hatte ihm erklärt, daß sie bald ein noch größeres Meer überqueren würden, den Atlantischen Ozean.
»So lange leben die nicht mehr«, prophezeite Jakov.
»Wer?«
»Nadja und die anderen.«
»Natürlich werden sie noch leben«, behauptete der Steuermann. »Auf der Nordsee wird jeder seekrank. Aber nach einer Weile beruhigen sich ihre Mägen wieder. Das hat was mit dem Innenohr zu tun.«
»Was hat denn das Ohr mit dem Magen zu tun?«
»Es spürt Bewegung. Zuviel Bewegung macht es kirre.«
»Wie denn?«
»Das weiß ich auch nicht genau. Aber so funktioniert das jedenfalls.«
»Mir ist aber nicht schlecht. Ist an meinem Innenohr irgendwas anders?«
»Du mußt ein geborener Seemann sein.«
Jakov blickte auf den Stumpf seines linken Arms und schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
Der Steuermann lächelte. »Du hast was im Kopf, das ist viel wichtiger. Da, wo du hingehst, wirst du deinen Kopf brauchen.«
»Warum?«
»In Amerika kannst du reich werden, wenn du schlau bist. Du willst doch reich werden, oder?«
»Ich weiß nicht.«
Der Steuermann und der Kapitän lachten.
»Vielleicht hat der Junge am Ende doch nichts im Kopf«, meinte der Kapitän.
Jakov sah ihn an, ohne zu lächeln.
»War doch nur ein Witz«, beschwichtigte der Steuermann.
»Ich weiß.«
»Warum lachst du eigentlich nie, Junge? Ich habe dich noch nie lachen gesehen.«
»Mir ist nicht danach.«
»Der kleine Glückspilz kommt zu einer reichen Familie in Amerika«, schnaubte der Kapitän, »und ihm ist nicht nach Lachen? Was ist denn mit dem los?«
Jakov zuckte die Achseln und sah wieder auf die Karte.
»Dafür heule ich auch nicht.«
Alexei hatte sich in der unteren Koje zusammengerollt und preßte Shu-Shu an seine Brust. Er schreckte hoch, als Jakov sich zu ihm auf die Matratze setzte.
»Willst du denn nie mehr aufstehen?« fragte Jakov.
Alexei schloß die Augen. »Ich bin krank.«
»Lubi hat Lammklöße zum Abendessen gemacht. Ich habe neun geschafft.«
»Rede bloß nicht davon.«
»Hast du denn keinen Hunger?«
»Natürlich habe ich Hunger, aber mir ist zu schlecht zum Essen.«
Jakov seufzte und sah sich in der Kabine um. Es gab acht Kojen in dem Raum, und sechs waren mit Jungen belegt, die zu krank zum Spielen waren. Jakov hatte bereits in den angrenzenden Quartieren nachgesehen und festgestellt, daß die anderen Jungen genauso mattgesetzt waren. Sollte das etwa den ganzen Weg über den Atlantik so bleiben?
»Das ist alles wegen deinem Innenohr«, erklärte Jakov.
»Wovon redest du überhaupt?« stöhnte Alexei.
»Dein Ohr. Das macht deinen Magen krank.«
»Meinen Ohren geht es bestens.«
»Du bist jetzt schon seit vier Tagen krank. Du mußt aufstehen und was essen.«
»Laß mich in Ruhe.«
Jakov griff nach Shu-Shu und zog ihn weg.
»Gib ihn mir wieder!« jammerte Alexei.
»Komm und hol ihn dir.«
»Gib ihn mir!«
»Zuerst mußt du aufstehen, komm schon.« Jakov tänzelte von der Koje weg, als Alexei kraftlos nach dem ausgestopften Hund grapschte. »Es geht dir bestimmt besser, wenn du erst mal aufgestanden bist.«
Alexei setzte sich auf. Für einen Moment hockte er auf der Kante seiner Matratze, sein Kopf schwankte mit jeder Bewegung des Schiffes. Plötzlich schlug er sich die Hände vor den Mund, sprang auf und stolperte durch den Raum. Er erbrach sich ins Waschbecken und kroch wimmernd in seine Koje zurück.
Mit ernster Miene gab Jakov ihm Shu-Shu zurück. Alexei drückte den ausgestopften Hund an seine Brust. »Ich habe dir ja gesagt, daß ich krank bin. Und jetzt hau ab.«
Jakov verließ die Quartiere der Jungen und schlenderte über den Korridor. Er klopfte an Nadjas Kabinentür, doch Nadja antwortete nicht. Er ging weiter zu Gregors Kabine und klopfte erneut.
»Wer ist da?« knurrte er.
»Ich bin’s, Jakov. Sind Sie auch immer noch krank?«
»Verpiss dich!«
Jakov verkrümelte sich. Eine Zeitlang stromerte er auf dem Schiff herum, doch Lubi war schon schlafen gegangen, und weder der Kapitän noch der Steuermann hatten Zeit für ihn.
Jakov war wie üblich allein.
Er ging hinunter in den Maschinenraum, um Koubichev zu besuchen.
Sie bauten das Schachspiel auf. Jakov machte den ersten Zug,
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