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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Personalschlüssel war die Fahrt hier zu Ende. Er mußte den Fahrstuhl verlassen und die Feuertreppe bis zur obersten Etage nehmen.
    Das erste, was ihm nach Verlassen des Treppenhauses auffiel, war die Stille. Es war ein Gefühl von Leere. Dieser Teil des Krankenhauses wurde schon seit Monaten renoviert. Heute waren keine Handwerker hier gewesen, aber ihre Werkzeuge lagen überall herum. Es roch nach Sägemehl und frischer Farbe – und nach etwas anderem. Es war ein Geruch, den Katzka aus dem Obduktionsraum kannte, der nach Tod und Verwesung. Er ging vorbei an Leitern und einer Kreissäge und bog um die Ecke.
    Auf halbem Weg den nächsten Flur hinunter war eine Tür mit gelbem Polizeiband abgesperrt. Katzka schlüpfte darunter durch und stieß die Tür auf.
    Dieses Zimmer war schon fertigrenoviert. Es hatte bereits Tapeten, die üblichen Schränke und ein vom Boden bis zur Decke reichendes Fenster mit Blick über die Stadt. Es war eine Penthouse-Suite für besondere Patienten mit unerschöpflichen Brieftaschen. Katzka betrat das Bad und schaltete das Licht an.
    Noch mehr Luxus: ein Toilettentisch aus Marmor, Messingarmaturen, eine thronartige Toilette. Er löschte das Licht und ging wieder hinaus. Dann trat er auf den Schrank zu.
    Darin hatte man den erhängten Dr. Levi gefunden. Ein Ende des Ledergürtels war an der Kleiderstange befestigt gewesen, das andere hatte in einer Schlinge um Dr. Levis Hals gelegen.
    Offenbar hatte er nur in den Beinen nachgeben müssen, damit der Gürtel seine Kehle zuschnürte und die Blutzufuhr zum Gehirn durch die Halsarterien unterbrach. Wenn er im letzten Moment seine Meinung geändert hätte, hätte er nur die Füße wieder auf den Boden stellen, sich aufrichten und den Gürtel lösen müssen. Aber das hatte er nicht getan. Er hatte dort die fünf bis zehn Sekunden gehangen, die es dauerte, bis man das Bewußtsein verlor.
    Sechsunddreißig Stunden später war ein Handwerker gekommen, um die Fugen der Badewanne abzudichten. Er hatte nicht erwartet, eine Leiche zu finden.
    Katzka war an das Fenster getreten und blickte auf die Stadt.
    Was kann in Ihrem Leben so falsch gelaufen sein, Dr. Aaron Levi? fragte er sich.
    Ein Kardiologe, verheiratet, nettes Häuschen, ein Lexus. Zwei Kinder, die erwachsen waren und auf das College gingen: Was hatte Levi schon von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gewußt? Welchen Grund konnte er schon gehabt haben, sein Leben zu beenden? Feigling. Feigling! Katzka wandte sich ab, von seinem eigenen Zorn erschüttert, seiner Empörung über einen Menschen, der sich entschieden hatte, ein solches Ende zu wählen. Und warum gerade dieses Ende? Warum sollte er sich in einem einsamen Zimmer erhängen, in dem ihn vielleicht tagelang niemand fand?
    Es gab andere Methoden, Selbstmord zu begehen. Levi war Arzt. Er hatte Zugang zu Narkotika, Beruhigungsmitteln, einer beliebigen Zahl von Drogen, die man in tödlicher Dosis zu sich nehmen konnte. Katzka wußte ganz genau, wieviel Phenobarbital man brauchte, um ein Leben zu beenden. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das zu wissen. Einmal hatte er die auf sein Körpergewicht berechnete Anzahl von Pillen vor sich auf dem Eßtisch aufgereiht und über die Freiheit sinniert, die sie darstellten, das Ende von Trauer und Verzweiflung. Es war ein leichter, aber unwiderruflicher Ausweg, sobald er seine Angelegenheiten geregelt hatte. Aber der Zeitpunkt war nie ganz passend gewesen. Er hatte zu viele Verantwortlichkeiten, Dinge, um die er sich zunächst hatte kümmern müssen. Annies Beerdigung, die Begleichung ihrer Krankenhausrechnung, dann war da ein Prozeß gewesen, bei dem er aussagen mußte, dann ein Doppelmord in Roxbury, und die letzten acht Raten für den Wagen, und dann noch ein dreifacher Mord in Brookline, und wieder ein Prozeß, in dem er aussagen mußte.
    Am Ende war Slug Katzka schlicht zu beschäftigt gewesen, um sich umzubringen.
    Das war jetzt drei Jahre her. Annie war beerdigt, und die Phenobarbital-Tabletten hatte er längst weggeworfen. Er dachte nie mehr an Selbstmord. Doch hin und wieder dachte er an die auf seinem Eßtisch aufgereihten Tabletten und fragte sich, warum er überhaupt in Versuchung geraten, wie er der Kapitulation je so nahe gekommen war. Er hegte wenig Mitgefühl für den Slug von vor drei Jahren. Genauso wenig wie für sonst jemanden mit einem Döschen Pillen und unheilbarem Selbstmitleid.
    Und was war Ihr Grund, Dr. Levi?
    Er blickte auf das lichtschimmernde Boston hinunter und

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