Kalte Herzen
vierzig Personen‹ und sie bringen mir das. Es ist schließlich keine Hochzeit. Auf einer Hochzeit ißt jeder, aber nach einer Beerdigung haben die meisten keinen so großen Hunger.«
Elaine betrachtete eins der Tabletts und nahm ein zu einer Rosette geschnittenes Radieschen. »Haben sie es nicht hübsch dekoriert? So viel Arbeit für etwas, was man einfach in den Mund steckt.« Sie legte das Radieschen wieder auf die Platte und sagte nichts weiter, sondern bewunderte nur still die Rosette.
»Es tut mir so leid, Elaine«, sagte Abby. »Wenn ich nur etwas sagen könnte, um es leichter zu machen.«
»Ich wünschte nur, ich könnte es verstehen. Er hat nie etwas gesagt. Er hat mir nie gesagt …« Sie schluckte und schüttelte den Kopf. Dann nahm sie das Tablett, öffnete den Kühlschrank, schob es in ein leeres Fach und machte die Tür wieder zu.
Danach drehte sie sich um und sah Abby an. »Sie haben doch an dem Abend mit ihm gesprochen. Haben Sie über irgendwas geredet, das … ich meine, hat er vielleicht irgendwas gesagt?«
»Wir haben über eine unserer Patientinnen gesprochen. Aaron wollte sich vergewissern, daß ich die richtigen Maßnahmen ergreife.«
»Das war alles, worüber Sie gesprochen haben?«
»Ja, nur über die Patientin. Auf mich wirkte Aaron nicht anders als sonst. Nur besorgt. Elaine, ich hätte nie gedacht, daß er …« Abby verstummte.
Elaines Blick wanderte zum nächsten Tablett mit einer Dekoration aus kleinen, zu spitzenartigen Quasten arrangierten Lauchzwiebeln. »Haben Sie je etwas über Aaron gehört, das Sie mir lieber nicht erzählen würden?«
»Was meinen Sie?«
»Gab es je Gerüchte über andere Frauen?«
»Nie.« Abby schüttelte den Kopf und wiederholte nachdrücklich: »Nie!«
Elaine nickte, auch wenn Abbys Versicherung sie kaum zu trösten schien. »Ich habe eigentlich nie gedacht, daß es eine Frau war«, sagte sie, nahm ein weiteres Tablett und trug es zum Kühlschrank. Als sie dessen Tür wieder geschlossen hatte, meinte sie: »Meine Schwiegermutter gibt mir die Schuld. Sie glaubt, es muß etwas gewesen sein, was ich getan habe. Das müssen sich doch eine Menge Leute fragen.«
»Niemand treibt einen anderen Menschen in den Selbstmord.«
»Es gab keine Vorwarnung, gar nichts. Ich weiß, er war nicht glücklich in seinem Job. Er sprach immer wieder davon, Boston zu verlassen oder sogar die Medizin ganz aufzugeben.«
»Warum war er denn so unglücklich?«
»Er wollte nicht darüber reden. Als er noch seine eigene Praxis in Natick hatte, haben wir ständig über seine Arbeit geredet.
Dann kam das Angebot aus Bayside, und es war einfach zu gut, um es abzulehnen. Aber nachdem wir hierhergezogen sind, war es, als ob ich ihn nicht mehr kannte. Er kam nach Hause und hockte wie ein Zombie vor dem verdammten Computer.
Er hat den ganzen Abend Videospiele gespielt. Manchmal bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und habe dieses seltsame Piepen und Klicken gehört. Es war Aaron, der allein irgendein Spiel spielte.« Sie schüttelte den Kopf und starrte ein weiteres unangerührtes Tablett auf dem Tresen an. »Sie sind einer der letzten Menschen, die mit ihm gesprochen haben. Ist Ihnen wirklich gar nichts aufgefallen?«
Abby sah aus dem Küchenfenster und versuchte, ihr letztes Gespräch mit Aaron zu rekonstruieren. Doch ihr fiel nichts ein, worin es sich von jedem anderen nächtlichen Ärztetelefonat unterschieden hätte. In ihrer Erinnerung schienen sie alle zu einem Chor aus monotonen Stimmen zu verschwimmen, die Aktivität von ihrem müden Gehirn verlangten.
Draußen kehrten die drei Männer von ihrem Spaziergang durch den Garten zurück und kamen über die Terrasse auf die Küchentür zu. Zwick hatte die mittlerweile halb leere Scotchflasche in der Hand. Als sie das Haus betraten, nickten sie ihr zu.
»Hübscher kleiner Garten«, sagte Archer. »Sie sollten ihn sich einmal ansehen, Abby.«
»Gerne«, sagte sie. »Vielleicht hätten Sie Lust, ihn mir zu zeigen, Elaine.« Sie hielt inne.
Der Platz neben dem Kühlschrank war leer. Sie blickte sich in der Küche um und sah die Tabletts mit dem Essen, daneben eine offene Schachtel Plastikfolie, aus der ein durchsichtiger Fetzen hing, der in der Luft flatterte.
Elaine hatte den Raum verlassen.
Eine Frau saß betend an Mary Allans Bett. Sie saß schon seit einer halben Stunde dort, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet, während sie laut zu dem guten Herrn Jesus sprach und ihn um ein Wunder für die sterbliche Hülle von
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