Kalte Herzen
versuchte sich die letzte Stunde im Leben von Aaron Levi vorzustellen. Er versuchte sich vorzustellen, wie er um drei Uhr morgens aufgestanden, zum Krankenhaus gefahren, mit dem Fahrstuhl in den zwölften Stock gefahren, über diese Treppe bis in den dreizehnten Stock gestiegen und in dieses Zimmer gekommen war. Wie er den Gürtel an die Kleiderstange des Schrankes gebunden und seinen Kopf in die Schlinge gesteckt hatte.
Katzka runzelte die Stirn.
Er ging zum Lichtschalter und knipste das Licht an. Es funktionierte wunderbar. Aber wer hatte es dann wieder ausgeschaltet? Aaron Levi? Der Arbeiter, der die Leiche gefunden hatte?
Ein unbekannter Dritter?
Details,
dachte Katzka. Es waren die Details, die ihn wahnsinnig machten.
Elf
I ch kann es nicht glauben«, wiederholte Elaine immer wieder. »Ich kann es einfach nicht glauben.«
Sie weinte nicht und hatte auch die Beerdigungszeremonie mit trockenen Augen durchgestanden, was ihre Schwiegermutter Judith, die während der Rezitation des Kaddisch am offenen Grab laut und ungehemmt geweint hatte, sehr irritierte. Judiths Trauer war so zeremoniell wie der Schlitz in ihrer Bluse, ein Symbol dafür, daß ihr der Schmerz das Herz zerrissen hatte.
Elaine hatte ihre Bluse nicht geschlitzt und auch keine Tränen vergossen. Jetzt saß sie mit einem Teller voller Kanapees auf dem Schoß auf einem Stuhl in ihrem Wohnzimmer und sagte wieder: »Ich kann nicht glauben, daß er tot ist.«
»Du hast die Spiegel nicht abgedeckt«, bemerkte Judith. »Du solltest sie verhängen. Alle Spiegel im Haus.«
Judith machte sich auf die Suche nach Laken für die Spiegel.
Kurz darauf konnten die im Wohnzimmer versammelten Gäste hören, wie sie im obersten Stockwerk die Schränke durchsuchte.
»Das muß so ein jüdisches Ding sein«, flüsterte Marilee Archer, als Abby ein weiteres Tablett mit Sandwiches anreichte.
Abby nahm ein Olivensandwich und gab das Tablett weiter. Es wanderte von Gast zu Gast, obwohl kaum jemand etwas aß.
Ein Häppchen aus Höflichkeit und ein Schluck Limonade waren offenbar das Äußerste, was jeder vertragen konnte. Auch Abby war nicht nach Essen zumute, genausowenig wie nach Reden. In dem Raum saßen mindestens zwei Dutzend Menschen, hockten ernst auf Sofas und Stühlen oder standen in kleinen Gruppen, doch kaum jemand sagte etwas.
Von oben hörte man die Toilettenspülung. Judith natürlich.
Elaine verzog leicht verlegen das Gesicht, was von einzelnen Gästen mit einem verhaltenen Lächeln quittiert wurde. Hinter der Couch, auf der Abby saß, fing jemand an, sich darüber auszulassen, wie spät der Herbst dieses Jahr käme. Es war schon Oktober, und erst jetzt verfärbten sich langsam die Blätter.
Zumindest das Schweigen war endlich gebrochen. Neue Gespräche regten sich, Gemurmel über herbstliche Gärten, floskelhafte Nachfragen über das Leben in Dartmouth und Bemerkungen darüber, wie warm der Oktober noch war.
Elaine saß inmitten all dessen, ohne sich selbst an der Konversation zu beteiligen, aber sichtlich erleichtert, daß die anderen sich unterhielten.
Die Sandwichplatte hatte die Runde gemacht und kam jetzt leer wieder bei Abby an. »Ich lege noch ein paar nach«, sagte sie zu Marilee, erhob sich von der Couch und ging in die Küche, wo auf dem Marmortresen noch Berge von Essen warteten.
Heute würde bestimmt niemand hungrig nach Hause gehen. Als sie eine Platte mit Hummer abdeckte, fiel ihr Blick in den Garten, wo sie Archer, Raj Mohandas und Frank Zwick auf der mit Steinplatten gepflasterten Terrasse stehen sah. Sie redeten miteinander und schüttelten den Kopf. Typisch, daß die Männer sich wieder verzogen. Männer hatten keine Geduld mit trauernden Witwen und langem Schweigen. Diese Tortur überließen sie ihren Frauen im Haus. Sie hatten sich sogar eine Flasche Scotch mit nach draußen genommen, die zum bequemen Nachschenken auf einem Gartentisch zwischen ihnen stand.
Zwick griff danach und goß alle Gläser voll. Als er die Flasche wieder zuschraubte, bemerkte er Abby. Er äußerte etwas zu Archer, woraufhin sich auch der und Mohandas zu ihr umdrehten. Sie nickten und winkten ihr kurz zu, bevor sie zu dritt die Terrasse überquerten und sich in den Garten zurückzogen.
»So viel zu essen. Ich weiß nicht, was ich mit all dem Zeug machen soll«, sagte Elaine. Abby hatte gar nicht gemerkt, daß sie in die Küche gekommen war. Sie betrachtete die kalten Platten und schüttelte den Kopf. »Ich habe dem Party-Service gesagt ›für
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