Kalte Herzen
Mary Allen anflehte.
Heile sie, mache sie stark, reinige ihren Körper und ihre unreine Seele, auf daß sie dein Wort in all seiner Herrlichkeit endlich annehmen möge.
»Verzeihung«, sagte Abby. »Es tut mir leid, daß ich sie störe, aber ich muß Mrs. Allen untersuchen.«
Die Frau betete weiter. Vielleicht hatte sie sie nicht gehört.
Abby wollte ihre Bitte gerade wiederholen, als die Frau schließlich »Amen« sagte und den Kopf hob. Sie hatte kalte blaue Augen und braunes Haar, in dem sich erste graue Strähnen abzeichneten, und sah Abby verärgert an.
»Ich bin Dr. DiMatteo«, sagte Abby. »Ich kümmere mich um Mrs. Allen.«
»Ich auch«, erklärte die Frau und erhob sich. Sie machte keinerlei Anstalten, Abby die Hand zu schütteln, sondern stand, die Bibel an die Brust gepreßt, einfach nur da. »Ich bin Brenda Hainey, Marys Nichte.«
»Ich wußte gar nicht, daß Mary eine Nichte hat. Schön, daß Sie sie besuchen konnten.«
»Ich habe erst vor zwei Tagen von ihrer Krankheit erfahren.
Niemand hat sich die Mühe gemacht, mich anzurufen.« Ihr Ton deutete an, daß dieses Versäumnis irgendwie Abbys Fehler war.
»Wir sind davon ausgegangen, daß Mary keine engen Verwandten hat.«
»Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen. Jetzt bin ich jedenfalls hier.« Brenda sah ihre Tante an. »Und es wird ihr gutgehen.«
»Mal abgesehen davon, daß sie stirbt«, dachte Abby. Sie trat an das Bett und sagte leise: »Mrs. Allen?«
Mary schlug die Augen auf. »Ich bin wach, Dr. DiMatteo. Ich ruhe mich nur aus.«
»Wie fühlen Sie sich heute?«
»Mir ist immer noch übel.«
»Das könnte eine Nebenwirkung des Morphiums sein. Wir geben Ihnen etwas, um Ihren Magen zu beruhigen.«
»Sie bekommt Morphium?« schaltete Brenda sich ein.
»Gegen den Schmerz.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit, ihre Schmerzen zu lindern?«
Abby wandte sich der Nichte zu. »Mrs. Hainey, würden Sie bitte das Zimmer verlassen? Ich muß Ihre Tante untersuchen.«
»Miss Hainey, bitte«, schnaufte Brenda. »Und ich bin sicher, Tante Mary wäre es lieber, wenn ich bleibe.«
»Ich muß Sie trotzdem bitten zu gehen.«
Brenda starrte ihre Tante an, offenbar in Erwartung eines Widerspruches, doch Mary Allen blickte stur und stumm geradeaus.
Brenda drückte die Bibel fester an ihre Brust. »Ich warte draußen, Tante Mary.«
»Gütiger Gott«, flüsterte Mary, als die Tür hinter Brenda zugefallen war. »Das muß meine Strafe sein.«
»Meinen Sie Ihre Nichte?«
Marys müder Blick konzentrierte sich auf Abby. »Glauben Sie, daß meine Seele gerettet werden muß?«
»Ich würde sagen, das bleibt ganz Ihnen überlassen. Und sonst niemandem.« Abby zog ihr Stethoskop hervor. »Kann ich Ihre Lungen abhören?«
Gehorsam richtete Mary sich auf und zog ihren Krankenhauskittel hoch.
Ihre Atemgeräusche waren stark gedämpft. Als Abby Marys Rücken abklopfte, konnte sie den Wechsel zwischen Flüssigkeit und Luft hören und wußte, daß sich seit der letzten Untersuchung noch mehr Flüssigkeit im Brustraum angesammelt hatte.
Abby richtete sich auf. »Wie ist Ihre Atmung?«
»In Ordnung.«
»Vielleicht müssen wir schon bald punktieren oder eine Drainage legen.«
»Warum?«
»Um Ihnen die Atmung zu erleichtern. Damit Sie sich wohler fühlen.«
»Ist das der einzige Grund?«
»Ihr Wohlbefinden ist ein wichtiger Grund, Mrs. Allen.«
Mary ließ sich in die Kissen zurücksinken. »Dann sage ich Ihnen, wann ich es brauche«, flüsterte sie.
Als Abby das Zimmer verließ, wartete Brenda Hainey noch direkt vor der Tür. »Ihre Tante würde gerne ein bißchen schlafen«, sagte Abby. »Vielleicht können Sie ein anderes Mal wiederkommen.«
»Es gibt da etwas, was ich mit Ihnen besprechen muß, Doktor.«
»Ja?«
»Ich habe mich gerade bei der Schwester erkundigt, wegen des Morphiums. Ist das wirklich notwendig?«
»Ich denke, Ihre Tante würde die Frage bejahen.«
»Es macht sie benommen. Sie schläft die ganze Zeit nur.«
»Wir bemühen uns, Ihre Schmerzen so weit wie möglich zu lindern. Der Krebs hat sich schon im ganzen Körper ausgebreitet.
In ihren Knochen, in ihrem Gehirn. Das sind die schlimmsten Schmerzen, die man sich vorstellen kann. Das einzige, was wir jetzt noch für sie tun können, ist, Ihr zu helfen, ohne allzu große Qualen hinüberzugehen.«
»Was soll das heißen, ihr helfen hinüberzugehen?«
»Sie stirbt. Daran können wir nichts ändern.«
»Aber Sie haben diese Worte benutzt: ›ihr helfen, hinüberzugehen‹. Ist
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