Kalte Herzen
dafür das Morphium?«
»Es ist das, was sie jetzt will und braucht.«
»Ich habe mich schon früher mit dem Thema beschäftigt, Doktor, im Zusammenhang mit anderen Verwandten. Ich weiß zufällig, daß es illegal ist, medizinische Beihilfe zum Selbstmord zu leisten.«
Abby spürte, wie ihr vor Wut das Blut ins Gesicht schoß. Um Fassung bemüht, sagte sie so ruhig, wie sie konnte: »Sie haben mich mißverstanden. Wir versuchen lediglich dafür zu sorgen, daß Ihre Tante möglichst beschwerdefrei ist.«
»Das geht auch anders.«
»Wie zum Beispiel?«
»Indem man höhere Mächte um Hilfe bittet.«
»Sie meinen Beten?«
»Warum nicht? Es hat mir schon durch schwere Zeiten geholfen.«
»Sie dürfen natürlich herzlich gern für Ihre Tante beten. Aber soweit ich weiß, spricht sich die Bibel an keiner Stelle ausdrücklich gegen Morphium aus.«
Brendas Gesichtszüge erstarrten. Ihre Erwiderung wurde durch Abbys Pieper unterbrochen.
»Verzeihung«, sagte Abby kühl und entfernte sich, ohne das Gespräch beendet zu haben. Und das war gut so, weil sie schon eine wirklich sarkastische Bemerkung auf der Zunge gehabt hatte. Etwas wie: Warum fragen Sie Ihren Gott beim Beten nicht auch gleich nach einer Heilung? Das hätte Brenda garantiert wütend gemacht. Und mit der sich am Horizont abzeichnenden Klage Joe Terrios und einem Victor Voss, der wild entschlossen ihre Entlassung betrieb, konnte sie sich keine weitere offizielle Beschwerde leisten.
Vom einem Apparat im Schwesternzimmer wählte sie die auf dem Display ihres Piepers angezeigte Nummer.
»Information«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Hier ist Dr. DiMatteo. Sie haben mich anpiepen lassen.«
»Ja, Doktor. Hier wartet ein gewisser Bernard Katzka. Er fragt, ob Sie ihn in der Lobby treffen können.«
»Ich kenne niemanden, der so heißt. Ich bin hier oben ziemlich beschäftigt. Könnten Sie ihn fragen, was er will?«
Man hörte leises Gemurmel. Als die Frau sich wieder meldete, klang ihre Stimme seltsam reserviert. »Dr. DiMatteo?«
»Ja.«
»Er ist ein Polizist.«
Der Mann in der Lobby kam ihr vage bekannt vor. Er war Anfang vierzig, mittelgroß, von durchschnittlicher Statur, mit einem Gesicht, das weder attraktiv noch wirklich unscheinbar noch besonders eindrücklich war. Er hatte dunkelbraunes Haar, das auf dem Hinterkopf sichtbar ausdünnte, eine Tatsache, die er im Gegensatz zu manchen Männern nicht mit darübergekämmten Strähnen kaschierte. Als sie auf ihn zukam, hatte sie den Eindruck, daß auch er sie erkannte. Sein Blick war ihr schon gefolgt, seit sie den Fahrstuhl verlassen hatte.
»Dr. DiMatteo«, sagte er. »Ich bin Detective Bernard Katzka vom Morddezernat.«
Allein dieses Wort überraschte sie. Worum ging es hier? Sie gaben einander die Hand. Erst als sich dabei erneut ihre Blicke trafen, fiel ihr ein, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte: auf dem Friedhof, bei Aaron Levis Beerdigung. Er hatte ein wenig abseits der Trauernden gestanden, eine stumme Gestalt in einem dunklen Anzug. Während der Andacht hatten sich ihre Blicke schon einmal gekreuzt. Abby hatte die hebräischen Litaneien nicht verstanden und sich unter den Trauergästen umgesehen, als ihr aufgefallen war, daß noch jemand die Versammlung beobachtete. Sie hatten sich nur eine Sekunde lang angesehen, bevor er den Blick abgewandt hatte. In diesem kurzen Moment war kaum ein Eindruck von dem Mann entstanden, doch als sie jetzt in sein Gesicht sah, fühlte sie sich unwillkürlich von seinen Augen angezogen, die von einem ruhigen, unerschütterlichen Grau waren. Ohne diese intelligenten Augen hätte man Bernard Katzka glatt übersehen können.
»Sind Sie ein Freund der Familie Levi?« fragte sie.
»Nein.«
»Ich habe Sie auf dem Friedhof gesehen, oder irre ich mich?«
»Nein, ich war da.«
Sie wartete auf eine Erklärung, doch er sagte nur: »Können wir uns irgendwo unterhalten.«
»Darf ich fragen, worum es geht?«
»Um Dr. Levis Tod.«
Sie blickte zum Eingang. Die Sonne schien, und sie war den ganzen Tag noch nicht an der frischen Luft gewesen.
»Es gibt einen kleinen Hof mit Bänken«, sagte sie. »Warum gehen wir nicht dorthin?«
Draußen war es warm, ein perfekter Oktobernachmittag. Auf dem kleinen Innenhof blühten Chrysanthemen, das runde Beet war mit orangefarbenen und gelben Blumen bepflanzt. In der Mitte plätscherte leise und beruhigend ein Springbrunnen vor sich hin. Sie setzen sich auf eine der Holzbänke. Zwei Schwestern, die auf der anderen Bank
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