Kalte Herzen
wies sie den Fahrer an. »Ich möchte hier aussteigen.«
Und so war es gekommen, daß Brenda um sechs Uhr morgens auf einer Bank in St. Andrew’s saß. Sie saß zweieinhalb Stunden dort, den Kopf gesenkt im stummen Gebet für ihre Tante Mary.
Sie betete um die Vergebung ihrer Sünden, was immer sie gewesen sein mochten. Sie betete, daß die Seele ihrer Tante nicht länger zwischen den Stockwerken feststeckte und daß der Fahrstuhl nicht nach unten, sondern nach oben fuhr. Als Brenda schließlich aufblickte, war es halb neun. Die Kirche war noch immer leer. Das Morgenlicht fiel in Mosaiken aus Blauund Goldtönen durch die farbigen Glasfenster. Als sie zum Altar sah, erkannte sie dort die Umrisse des Hauptes Jesu. Sie wußte, daß es eine Fensterfigur war, die dorthin projiziert wurde, aber in diesem Augenblick kam es ihr vor wie ein Zeichen. Ein Zeichen, daß ihre Gebete erhört worden waren.
Tante Mary war gerettet.
Brenda war schwindelig vor Hunger, aber freudig erregt von der Bank aufgestanden. Eine weitere Seele, die sich dem Licht zugewandt hatte, und alles nur dank ihrer Anstrengungen.
Welch ein Glück, daß Er sie erhört hatte! Sie verließ St. Andrew’s mit einem Gefühl wunderbarer Leichtigkeit, als würde sie auf Wolken gehen. Vor der Kirche stand ein Taxi, das nur auf sie gewartet zu haben schien. Ein weiteres Zeichen.
In zufriedener Trance fuhr sie nach Hause.
Als sie die Stufen zu ihrer Veranda hinaufstieg, freute sie sich auf ein stilles Frühstück und ein wohlverdientes Nickerchen.
Selbst Seine Diener brauchten hin und wieder eine Pause. Sie schloß die Tür auf.
Ein Haufen Post, der am Morgen durch den Briefschlitz geworfen worden war, lag auf dem Boden. Es waren Rechnungen, kirchliche Informationsschriften und Spendenappelle. Es gab ja so viele Bedürftige auf der Welt!
Brenda sammelte die Briefe ein und blätterte sie auf dem Weg zur Küche durch. Als letztes stieß sie auf einen Umschlag, auf dem nur ihr Name stand, sonst nichts. Nur ihr Name, kein Absender.
Sie öffnete ihn und entfaltete den innenliegenden Zettel. Der Brief bestand nur aus einer einzigen Zeile:
Ihre Tante ist keines natürlichen Todes gestorben.
Unterzeichnet war er mit:
Ein Freund.
Die Post entglitt Brendas Händen, Rechnungen und Zeitungen fielen zu Boden. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie hatte keinen Hunger mehr, und auch das Gefühl inneren Friedens war verflogen.
Vor dem Fenster hörte sie ein Krächzen. Sie blickte auf und sah eine Krähe, die auf einem Ast in der Nähe hockte und sie mit ihrem gelben Auge direkt ansah.
Das war ein weiteres Zeichen.
Dreizehn
F rank Zwick blickte von dem Patienten auf dem Operationstisch auf und sagte: »Nach allem, was ich höre, kann man wohl gratulieren.«
Abby, die den OP nach dem obligatorischen zehnminütigen Einwaschen gerade mit tropfenden Händen betreten hatte, wurde von Zwick und den beiden Schwestern mit einem breiten Grinsen begrüßt.
»Ich hätte nie gedacht, daß den noch mal eine an Land zieht.
In hundert Jahren nicht«, bemerkte die OP-Schwester und reichte Abby ein Handtuch. »Da kann man mal sehen, daß auch Junggesellentum heilbar ist. Wann hat er Ihnen den Antrag gemacht, Dr. DiMatteo?«
Abby schlüpfte in den sterilen Kittel und streifte Handschuhe über. »Vor zwei Tagen.«
»Sie haben es zwei ganze Tage lang geheimgehalten?«
Abby lachte. »Ich wollte sichergehen, daß er es sich nicht noch mal anders überlegt.« Und das hat er nicht getan. Wenn überhaupt, dann sind wir uns sogar noch sicherer als je zuvor, dachte sie glücklich. Lächelnd trat sie an den Tisch, auf dem der bereits narkotisierte Patient mit entblößter Brust lag. Seine Haut war vom Betadin fleckig und gelbbraun verfärbt. Es sollte eine einfache Öffnung der Brusthöhle werden, die keilförmige Entfernung eines peripheren Lungensegments. Die Handgriffe waren ihr mittlerweile so vertraut, daß ihre Hände die Operationsvorbereitungen beinahe von selbst erledigten. Sie legte sterile Tücher aus, befestigte Klammern, breitete die blaue Abdeckung aus und befestigte noch mehr Klammern.
»Und wann ist der große Tag?« fragte Zwick.
»Darüber denken wir noch nach.« Tatsächlich taten sie kaum etwas anderes, als darüber nachzudenken. Wie groß wollten sie feiern? Im Freien oder drinnen? Wen sollten sie einladen? Nur eines stand bereits fest: Ihre Flitterwochen wollten sie an einem Strand verbringen. An irgendeinem Strand. Hauptsache, es gab Palmen in der
Weitere Kostenlose Bücher