Kalte Herzen
schnarchte leise, ohne irgend etwas von klingelnden Telefonen mitzubekommen. Sie lächelte, beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuß. »Ich will«, flüsterte sie ihm ins Ohr und verließ das Zimmer.
Sie traf Charlotte im Schwesternzimmer der Station West Vier.
Gemeinsam gingen sie zu Marys Zimmer am Ende des Flures.
»Wir haben sie bei der Kontrollrunde um zwei Uhr gefunden.
Als ich um Mitternacht nach ihr gesehen habe, hat sie geschlafen, also muß es irgendwann danach passiert sein.
Wenigstens ist sie friedlich gegangen.«
»Haben Sie die Familie verständigt?«
»Ich habe die Nichte angerufen. Ihre Nummer stand im Krankenblatt. Ich habe ihr gesagt, sie müsse nicht extra herkommen, aber sie hat darauf bestanden. Sie ist jetzt unterwegs. Wir haben für den Besuch ein bißchen saubergemacht.«
»Saubergemacht?«
»Mary muß sich ihren Katheter herausgerissen haben. Auf dem Fußboden war Blut und Salzlösung.« Charlotte öffnete die Tür des Krankenzimmers, und sie traten beide ein.
Im Licht der Nachttischlampe sah Mary Allen aus, als würde sie friedlich schlafen. Die Arme waren an den Körper gelegt, die Laken ordentlich über ihrer Brust geglättet. Aber sie schlief nicht, und das war rasch offenkundig: Ihre Augenlider standen halb offen. Man hatte einen zusammengerollten Waschlappen unter ihr Kinn gelegt, um zu verhindern, daß ihr Unterkiefer nach unten sackte. Menschen, die einem Verwandten die letzte Ehre erwiesen, wollten nicht in einen klaffenden Mund starren.
Abbys Aufgabe war schnell erledigt. Sie legte einen Finger auf die Halsschlagader: kein Puls. Sie schob den Krankenhauskittel der Patientin hoch und hörte zehn Sekunden lang deren Brust ab: keine Atmung, kein Herzschlag. Sie leuchtete mit einer Stablampe in die Augen: Die Pupillen waren weit und lichtstarr.
Eine Todeserklärung war lediglich eine Formalität. Die Schwestern hatten das Offensichtliche längst erkannt. Abbys Aufgabe bestand lediglich darin, die Erkenntnisse der Schwestern zu bestätigen und die Ereignisse im Krankenblatt festzuhalten. Es war eine dieser Pflichten, die einem im Medizinstudium nie erklärt wurden. Wenn man frischgebackene Ärzte im Praktikum bat, ihren ersten Patienten für tot zu erklären, wußten sie oft nicht, was sie zu tun hatten. Einige hielten improvisierte Reden, andere verlangten nach einer Bibel und sicherten sich so einen herausgehobenen Platz in den Annalen der Anekdoten über dumme Arzte.
In einem Krankenhaus ist ein Todesfall nicht Anlaß für Rede, sondern für Papierkram und Unterschriften. Abby nahm Mary Aliens Krankenakte und erledigte diese Pflicht. Sie schrieb:
»Keine spontane Atmung, kein tastbarer Puls, keine auskultierbaren Herzaktionen. Pupillen weit und lichtstarr.
Patientin wurde um drei Uhr fünf für tot erklärt.« Sie klappte das Krankenblatt zu und wandte sich zum Gehen.
In der Tür stand Brenda Hainey.
»Es tut mir leid, Miss Hainey«, sagte Abby. »Ihre Tante ist im Schlaf verschieden.«
»Wann ist das passiert?«
»Irgendwann nach Mitternacht. Ich bin sicher, sie ist friedlich hinübergegangen.«
»War irgend jemand bei ihr, als es passiert ist?«
»Die Schwestern haben den üblichen Stationsdienst versehen.«
»Aber es war niemand hier? In dem Zimmer, meine ich.«
Abby zögerte und entschied dann, daß die Wahrheit immer die beste Antwort war. »Nein, sie war allein. Ich bin sicher, es ist im Schlaf geschehen. Es war ein friedlicher Tod.« Sie trat vom Bett weg. »Sie können noch eine Weile hier bleiben, wenn sie möchten. Ich werde die Schwestern bitten, Sie eine Weile nicht zu stören.« Sie wollte an Brenda vorbei aus dem Zimmer gehen.
»Warum hat man nichts unternommen, um sie zu retten?«
Abby drehte sich um und blickte sie an. »Man konnte nichts tun.«
»Man kann doch ein Herz mit Elektroschocks behandeln, oder nicht? Es wieder in Gang bringen?«
»Unter gewissen Umständen.«
»Haben Sie das getan?«
»Nein.«
»Warum nicht? War sie zu alt, um gerettet zu werden?«
»Das Alter hatte nichts damit zu tun. Sie hatte unheilbaren Krebs.«
»Sie ist erst vor zwei Wochen ins Krankenhaus gekommen.
Das hat sie mir jedenfalls erzählt.«
»Sie war schon sehr krank.«
»Ich glaube, daß Sie sie hier noch kränker gemacht haben.«
Mittlerweile brodelte es in Abbys Magen. Sie war müde, sie wollte wieder ins Bett, und diese Frau ließ sie nicht. Statt dessen türmte sie Beleidigung auf Beleidigung, und Abby mußte es hinnehmen. Sie mußte ruhig
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