Kalte Herzen
bleiben.
»Es gab nichts, was wir tun konnten«, wiederholte sie.
»Warum hat man ihr Herz nicht wenigstens mit Elektroschocks behandelt?«
»Weil ihr Patientenstatus ausdrücklich festlegte, daß keine Reanimation stattfinden sollte. Das heißt, keine Defibrillation und keine Herz-Lungen-Maschine. Es war der Wunsch ihrer Tante, und wir haben ihn respektiert. Das sollten auch Sie tun, Miss Hainey.« Sie ging, bevor Brenda noch etwas sagen konnte.
Und bevor sie selbst etwas sagen konnte, was sie bereuen würde.
Als sie in den Bereitschaftsraum zurückkam, schlief Mark immer noch. Sie kroch ins Bett, kuschelte sich mit dem Rücken an ihn und zog seinen Arm um ihre Hüfte. Sie versuchte zurückzusinken in jene sichere, süße Bewußtlosigkeit des Schlafes, doch das Bild von Mary Allen, von dem Waschlappen unter ihrem herabhängenden Kinn und den halboffenen Lidern über den glasigen Augen trat Abby immer wieder vor Augen. Es war ein Körper im ersten Stadium der Verwesung. Ihr wurde bewußt, daß sie fast nichts über Mary Aliens Leben wußte, was Mary gedacht und wen sie geliebt hatte. Abby war ihre Ärztin gewesen, und sie wußte von Mary Allen nur, wie sie gestorben war. Im Schlaf, im Bett.
Nein, nicht ganz. Irgendwann vor ihrem Tod mußte Mary ihren Katheter herausgerissen haben. Die Schwestern hatten Blut und Salzlösung auf dem Boden gefunden. War Mary erregt gewesen? Was hatte sie veranlaßt, den Schlauch aus ihrer Vene zu ziehen?
Ein weiteres Detail über Mary Allen, das sie nie erfahren würde.
Mark seufzte und schmiegte sich enger an sie. Sie nahm seine Hand und drückte sie an ihre Brust.
Ich will.
Sie lächelte trotz der Trauer. Es war der Beginn eines neuen Lebens, ihres und Marks. Mary Aliens Leben war vorbei, und ihres stand ganz am Anfang. Der Tod einer älteren Patientin war traurig, aber hier im Krankenhaus gingen Leben weiter.
Und neue Leben begannen.
Um zehn Uhr am folgenden Morgen setzte das Taxi Brenda Hainey vor ihrem Haus in Chelsea ab. Sie hatte nicht gefrühstückt und seit dem Anruf aus dem Krankenhaus auch nicht mehr geschlafen, doch sie fühlte sich weder müde noch hungrig. Im Gegenteil, sie fühlte sich von einem tiefen inneren Frieden erfüllt.
Bis fünf Uhr morgens hatte sie am Bett ihrer Tante gebetet, bis die Schwestern gekommen waren, um die Leiche in die Leichenhalle zu bringen. Sie hatte das Krankenhaus verlassen und wollte direkt nach Hause fahren, doch das Gefühl, etwas nicht richtig zum Abschluß gebracht zu haben, hatte ihr keine Ruhe gelassen. Es hatte mit Tante Marys Seele zu tun und dem Punkt ihrer kosmischen Reise, an dem sie ich in diesem Augenblick befand. Wenn sie überhaupt unterwegs war. Sie konnte auch irgendwo feststecken wie ein Fahrstuhl zwischen zwei Stockwerken. Ob er aufwärts oder abwärts fuhr, wußte Brenda nicht genau, und auch das bereitete ihr Sorgen.
Tante Mary hatte sich die Dinge nicht leicht gemacht. Sie hatte nicht in die Gebete eingestimmt, hatte Ihn nicht um Vergebung gebeten, hatte nicht einmal einen Blick in die Bibel geworfen, die Brenda ihr auf den Nachttisch gelegt hatte.
Brenda hatte das schon zuvor beobachtet, bei anderen sterbenden Freunden und Verwandten, diese hirnlose Gelassenheit, wenn das Ende nahte. Sie war die einzige, die es wagte, die Frage der Rettung ihrer Seelen anzusprechen. Die einzige, die sich zu sorgen schien, in welche Richtung der Fahrstuhl am Ende fuhr. Gut, daß wenigstens sie sich sorgte. So sehr sogar, daß sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte zu wissen, wer in der Familie ernsthaft krank war. Wo immer in diesem Land er auch sein mochte, sie besuchte ihn und blieb bis zu seinem Ende bei ihm. Es war ihre Berufung geworden, und manche hielten sie deshalb für die Familienheilige. Natürlich war sie zu bescheiden, diesen Titel anzunehmen. Nein, sie erfüllte nur Seine Gebote, wie es jeder gute Diener tun würde.
Doch im Fall von Tante Mary war sie gescheitert. Der Tod war zu schnell gekommen, bevor ihre Tante Ihn von Herzen hatte annehmen können. Deswegen empfand Brenda, als sie um zwanzig vor sechs am Bayside-Hospital in ein Taxi stieg, ein tiefes Gefühl des Versagens. Ihre Tante war tot, ihre Seele unerlöst. Sie, Brenda, war nicht überzeugend genug gewesen.
Wenn Tante Mary nur einen einzigen Tag länger gelebt hätte, wäre vielleicht genug Zeit geblieben.
Das Taxi kam an einer Kirche vorbei. Es war eine episkopalische Kirche, nicht Brendas Konfession, aber eine Kirche war eine Kirche.
»Halt«,
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