Kalte Macht: Thriller (German Edition)
außergewöhnlicher Mail- oder Telefonverkehr, den er ihm zuordnen konnte. Kontakte hauptsächlich innerhalb des Bundespresseamts und als Verteiler gegenüber den Empfängern der Pressemappen und der Clippings. Ab und zu surfte Wilhelm mit seinem Dienstcomputer auf Pornoseiten, gelegentlich besuchte er ein Online-Casino. Die Verluste schienen sich in Grenzen zu halten. Henrik Eusterbeck fragte sich, was Natascha an ihm interessierte.
Er packte ihr die Infos in eine verschlüsselte Datei und schickte sie ihr an ihren privaten E-Mail-Account. Soweit er wusste, hatte sie den noch nicht mit ihrem System am Arbeitsplatz synchronisiert. Und das sollte sie auch tunlichst bleiben lassen, wie er ihr schon ganz am Anfang gesagt hatte. Wenn er sich in den Mails und auf den Festplatten der Mitarbeiter des Kanzleramts und anderer Institutionen herumtreiben konnte, konnten das die Sicherheitsfuzzis an der Willy-Brandt-Straße zweifellos auch.
Er ging wieder hinüber ins Wohnzimmer, schnappte sich sein Handy und simste ihr zurück: »Schon erledigt :-)«. Dann legte er sich wieder aufs Sofa. Wenn sie ihn abhörten, konnten sie dann auch Kurznachrichten lesen, die er und Natascha austauschten? Sicher konnten sie das. Henrik fragte sich, ob Nataschas Schnüffeleien auch für andere gefährlich werden konnten. Für Frank Wilhelm zum Beispiel. Lenkte Natascha nicht den Blick gewisser Leute genau auf jene, für die sie sich interessierte? Und was, wenn es aus purem Zufall mal jemand war, der zu den heimlichen Beobachtern gehörte? Würde dieser dann aktiv werden? Henrik schüttelte den Kopf. Langsam wurde er vollkommen paranoid. Nein, so wichtig war Natascha nicht. Einerseits. Andererseits: Wie wichtig konnte schon eine Hure sein? Höchstens so wichtig wie die Informationen, die sie besaß …
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Nein, an Schlaf war nicht zu denken. In seinem Kopf war kein Platz mehr für erholsame Dunkelheit.
*
»Was haben Sie ihr erzählt?«
»Wieso erzählt? Wem überhaupt?«
»Der Neuen im Kanzleramt. Eusterbeck.«
»Was soll ich ihr erzählt haben? Was ist überhaupt los?«
»Sie hat mir hier aufgelauert, hat mich mit Fragen bombardiert, wollte wissen, was es mit dem Schuldenschnitt auf sich hat …«
»Vielleicht hat sie sich einfach weitergebildet?«
»Sie hat ständig auf Jo Feldmann rumgeritten. Und auf der alten Geschichte …«
»Sie meinen …«
»Ja. Ritter.«
»Scheiße. Was hat Ritter denn damit zu tun?«
»Der wollte den Schuldenschnitt. Schon vergessen?«
»Aber das war doch eine ganz andere Situation.«
»Das habe ich ihr auch erklärt.«
»Und sonst? Haben Sie ihr sonst noch etwas erklärt? Ich hoffe doch, Sie haben nicht zu viel geplaudert.«
»Keine Sorge, von mir hat sie nichts erfahren. Sie weiß nicht einmal, dass Sie und ich …«
»Dann ist es ja gut. Und wir werden jetzt dafür sorgen, dass das auch so bleibt.«
»Dafür wäre ich sehr dankbar.«
»Auf Wiederhören, Herr von Wintersleben.«
»Auf Wiederhören.«
*
»Nehmen Sie sich frei, Herr Bleicher«, sagte Natascha und lächelte ihrem Chauffeur freundschaftlich zu. »Ich nehme heute mein eigenes Auto, weil ich hinterher noch privat etwas vorhabe.«
»Wie Sie meinen, Frau Staatssekretärin«, erwiderte Bleicher, korrekt bis ins Komma, wie immer. Er sperrte den Wagen ab und verließ die Tiefgarage des Kanzleramts über den Lieferantenaufzug, während sie hinüberging zum Lift, der sie in die Lobby bringen würde. Sie wollte noch ein paar Sachen in ihrem Büro abholen, vor allem die Rede, die Petra Reber ihr abgetippt hatte, und zwar so ordentlich und in so großem Schriftgrad, dass sie sie auch unkompliziert lesen konnte. Dann fuhr sie wieder hinab in die lichtgrauen Katakomben des Kanzleramts und nahm ihren eigenen Wagen, um zur Eröffnung eines »Europäischen Bildungsforums« in der Friedrichstraße zu fahren. Wie immer würde sie die Werte des klassischen Bildungsideals beschwören. Würde die Globalisierung als Chance benennen, die den Blick über den Tellerrand erzwang und so die Lebenswirklichkeit der Schüler und Studierenden bereicherte. Sie würde eine Brücke spannen von Lessing über Voltaire bis Disraeli. Damit wäre sie bei der Politik angelangt und konnte mit einem brillanten Zitat zum Ende kommen: »Was wir heute erleben, wäre vor etwas mehr als einer Generation nicht denkbar gewesen. Wer glaubt, unsere Lösungen seien noch nicht das Ei des Kolumbus, der möge sich an Abraham Lincoln
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