Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Sie? Den Pulitzerpreis?«
»Ich muss mit Ihnen sprechen, Herr Wilhelm.«
»Frank«, sagte er. »Hier drin bitte einfach Frank. Draußen können Sie mich nennen, wie Sie wollen.« Er steckte sich die Zigarette an und sah unglaublich alt aus. Natascha fühlte Mitleid mit ihm. Ein Mann Ende fünfzig, der seine Abende allein an der Bar einer billigen Kneipe im Wedding verbrachte … »Bitte, Frank«, sagte sie. »Tun Sie mir den Gefallen.«
»Oh Mann«, seufzte Wilhelm. »Sie haben ja keine Ahnung, worauf Sie sich da einlassen.«
*
David Berg spülte die vierte oder fünfte Ephedrin-Kapsel des Tages mit dem inzwischen erkalteten Rooibush-Tee hinunter und schüttelte den Kopf über sich selbst. Einerseits vermied er Kaffee, rauchte nicht, machte Fitnesstraining, andererseits vergiftete er sich mit der Droge Nummer eins in deutschen Chefetagen – und eben auch in der Politik. Aber es war schlicht nicht durchzuhalten ohne Doping. Auf dem stumm geschalteten Bildschirm sah er die Kanzlerin, die in den frühen Morgenstunden in Luxemburg eine Pressekonferenz gegeben hatte. Nach siebenstündigen Verhandlungen am Ende eines Fünfundzwanzig-Stunden-Arbeitstags. Und man sah ihr jede Dosis an, die sie aufgrund der Hast von Termin zu Termin und von Meeting zu Meeting nicht hatte nehmen können. Jede einzelne. Sie hätte mindestens zwei bis drei Kapseln mehr gebraucht, vor allem vor dem Auftritt vor der Presse. Zumindest waren auch die Kollegen so übermüdet gewesen, dass sie keine kritischen Fragen mehr zustande gebracht hatten. Eigentlich war es nur eine Verlautbarung gewesen. David Berg hatte im Hintergrund gestanden, gottlob außerhalb des Kamerabereichs, und hatte sich heimlich an eine Stellwand geklammert, um nicht augenblicklich vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Dann war der Spuk zu Ende gewesen, und sie waren in die Limousine gestiegen, die sie zum Flughafen gebracht hatte. Morgen würde es neue Bilder geben – und die würden besser aussehen, dafür hatte Berg schon gesorgt, indem er die für die Garderobe und das Make-up der Kanzlerin zuständige Mitarbeiterin angewiesen hatte, die Alte daran zu erinnern, ihren Adrenalin- und Dopaminhaushalt zu pflegen. Und er musste auch besser rüberkommen, selbst wenn er nicht im Fernsehen zu sehen war, hatte er die Aufgabe, die Regierung dynamisch, aufgeräumt, gut informiert und schlagfertig zu repräsentieren. Konferenzleichen konnte er in der Delegation nicht dulden, sein durfte er schon gar keine.
Sie waren direkt nach Berlin zurückgeflogen, und David Berg hätte sein linkes Ei dafür geopfert, wenn es die Strecke Washington – Schönefeld gewesen wäre. So aber war kaum mehr als eine Stunde Schlaf herausgesprungen. Und dann hatte der neue Tag schon mit eisernen Fäusten nach ihnen gegriffen und sie erneut in das irrwitzige Karussell von Ereignissen und Herausforderungen geschleudert, in dem sie sich seither abstrampelten. Eigentlich hätten sie alle auch ganz aufhören können zu schlafen. Niemals gab es in diesen Jobs einen aufgeräumten Schreibtisch oder eine Angelegenheit, die endgültig vom Tisch war. Wenn man die Sachfragen geklärt hatte, ging es darum, sie den Partnern psychologisch klug zu verkaufen. Dann das Parlament, die Ausschüsse, die Medien, die Opposition, Interessengruppen, wieder die Medien, Bundestag, Bundesrat, Pressekonferenz, Vermittlungsausschuss, Medien, Meldungen und Dementis, Desinformationen durch den politischen Gegner, innerparteiliche Intrigen, Medien, Gerüchte, zweite Lesung im Parlament, Abstimmung, Medien, Fauxpas, Korrektur, Angriffe aus der Opposition, Pressekonferenz, Medien … Die Politik des 21. Jahrhunderts unterschied sich von der aus Bismarcks Zeiten ungefähr so wie der Kampf Mann gegen Mann vom Atomkrieg.
»Du siehst angegriffen aus, David«, sagte Britta Paulus, die mit einer Tasse Kaffee in der Tür stand.
»Ich glaube, Politik kann nicht mehr lange so weitergehen.«
»Tut mir leid, das musst du mir erklären.«
»Das alles überfordert jede menschliche Natur. Ich meine, ich habe ja im Journalismus auch einiges erlebt und war es gewohnt, ein hartes Tempo vorzulegen, nicht nur werktags von neun bis fünf. Aber das da …« Er hob die Berge von Papier, die vor ihm lagen, mit beiden Händen hoch und ließ sie wieder auf den Schreibtisch fallen. »Das wird uns alle noch umbringen.«
Britta Paulus nickte verständnisvoll. »Und was willst du dagegen unternehmen?«
»Nichts. Ich glaube nur, dass die Menschen sich darauf
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