Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Sie nickte ihm zu, er bedachte sie noch mit einem tiefernsten Blick, dann verließ er das Zimmer, und Natascha war wieder allein mit ihrem Vater. »Du kannst nichts sehen.«
»Nein. Nicht mal, ob es hell ist oder dunkel. Für mich ist zurzeit immer Nacht.«
»Wie stehen die Chancen, dass du wieder ganz gesund wirst?«
»Ganz gesund … in meinem Alter. Ich weiß nicht, meine Prinzessin. Ich wäre nicht undankbar, wenn es wieder so lala ginge. Hauptsache, ich komme hier raus, bevor mich der Fluch des Klinikaufenthalts gepackt hat. Lungenentzündung, Herzversagen, Exitus.«
»Sag so was nicht. Die kümmern sich doch hier sicher gut um dich, oder?«
»Nicht nur hier, fürchte ich.« Wolfhardt Lippold richtete sich mühsam wieder etwas auf, um näher an ihrem Ohr zu sein. Er packte sie am Ärmel und zog sie zu sich hin. »Der Sturz war nicht die Ursache meiner Kopfverletzung. Es war umgekehrt: Die Kopfverletzung war die Ursache für meinen Sturz. Jemand hat mich niedergeschlagen. Ich musste nicht in die Garage, ich hatte nur etwas gehört. Du weißt, manchmal hört man Geräusche um das Haus. Ein Tier, das sich verlaufen hat, ein loses Holzteil, das im Wind klappert. Ich habe erst gar nicht daran gedacht, dass es ein Mensch sein könnte, der ums Haus schleicht.«
»Um Gottes willen! Und da bist du rausgegangen?« Natascha sah es direkt vor sich: Ihr Vater in der Dämmerung, irgendwo ein Schaben oder Rascheln. Er tappt durch das Halbdunkel und bemerkt plötzlich, dass jemand hinter ihm steht. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Du meinst, jemand wollte dich überfallen? Ein Einbrecher?«
Lippold schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht, weil er offenbar Schmerzen litt, ließ sich wieder ins Kissen sinken und sagte leise: »Nein. Kein Einbrecher. Das war jemand, der andere Gründe hatte.«
»Aber wer sollte dir etwas Böses wollen, Papa?«
»Mir«, seufzte er und starrte mit seinen leeren Augen an die Decke. »Oder dir.«
Eine Weile saßen sie schweigend da und lauschten auf die Geräusche des Krankenhauses. Dann erklärte Wolfhardt Lippold seiner Tochter: »Weißt du, Natascha, ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht. Du erinnerst dich: als du mich in Braunschweig besucht hast an diesem Abend, kurz nach deiner Ernennung zur Staatssekretärin. Seither hat mir deine Aufgabe keine Ruhe gelassen. Ich fand es merkwürdig, dass die Kanzlerin jemanden mit so wenig Erfahrung mit einer solchen Aufgabe betraut hat. Der Gedanke, dass es jemand von außen sein soll, ist schon richtig. Aber dennoch hätte es sicher ältere Weggefährten gegeben, die viel mehr Wissen über die vielfältigen Beziehungen in der Umgebung der Kanzlerin mitbringen. Das kommt mir doch irgendwie seltsam vor. Versteh mich nicht falsch, du bist klug und engagiert, du bist nicht korrupt, anders als die meisten, die dich umgeben. Aber du bist eben doch ein politisches Leichtgewicht. Noch. Diese Aufgabe passt nicht zu jemandem, der …«
Wieder wurden sie unterbrochen. Diesmal war es die Krankenschwester allein, die hereinkam und Natascha auf freundliche, aber unmissverständliche Weise zu verstehen gab, dass es Zeit wäre zu gehen. »Zu viel Anstrengung ist momentan nicht gut für Ihren Vater. Der Herr Doktor wird es Ihnen gerne erklären.«
Natascha nickte. »Schon gut. Ich gehe. Papa, morgen bin ich früher da, ja? Dann können wir das alles in Ruhe besprechen.«
»Natascha!« Er verstärkte seinen Griff. »Du kommst doch sicher?«
»Aber natürlich. Morgen Vormittag. Jetzt bin ich ja hier.« Sie beugte sich über ihn, gab ihm einen Kuss und folgte der Schwester nach draußen.
*
Der Rückweg zum Haus am See war lang genug, um eine Gewissheit in Henrik Eusterbeck reifen zu lassen. Je länger er durch die eisige Landschaft ging, umso klarer wurde ihm, dass sich in seinem Leben gerade etwas dramatisch veränderte. Etwas, das nicht in seiner Hand lag. Jedenfalls nicht mehr. Sein Leben begann ihm zu entgleiten.
Natti war nicht ohne Grund verschwunden. Sie war auch nicht unfreiwillig verschwunden. Zuerst war ihm der Verdacht gekommen, jemand könnte Natascha in seine Gewalt gebracht haben. Doch die Mitarbeiterin in der Bäckerei hatte ja gesagt, Natascha habe von sich aus überstürzt den Laden verlassen. Nein, sein Bauch signalisierte ihm klar, dass es Gründe gab, weshalb sie nicht zurückgekommen war. Einen Grund zumindest. Ihn. So schön die letzten Tage gewesen waren, so brüchig war das Glück gewesen – und schon auf dem
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