Kalte Macht: Thriller (German Edition)
»Hallo, schöner großer Mann, hast du Sehnsucht nach mir?«
Sie war so verwirrt und erschrocken, dass sie das Handy fallen ließ. Dann knallte es auf den Boden und war aus. Sie starrte das Handy an. Es war Henriks.
*
Die Autobahn nach Braunschweig war zwar geräumt, aber dennoch gefährlich glatt. Der Winterdienst hatte gestreut, doch scheinbar zu wenig Salz eingesetzt, sodass der Schnee nur taute und dann auf dem klirrend kalten Asphalt wieder fror. Mehr als einmal war Natascha Eusterbeck nahe daran, den Wagen gegen eine Leitplanke zu manövrieren. Aber das Wetter hatte auch sein Gutes: Sie musste sich so sehr auf den Weg konzentrieren, dass sie kaum dazu kam, über alles nachzudenken, was sonst ihren Kopf verstopft hätte. Die Schwangerschaft, die Frau an Henriks Telefon – und die Sache mit David Berg, die sie längst verdrängt hatte und die sich plötzlich auch noch zwischen all diese Probleme zwängte. Quälend langsam kroch sie nach Braunschweig – und doch immer noch viel zu schnell für die Straßenverhältnisse. Im Radio hörte sie abwechselnd Deutschlandfunk und BBC . So durch den Wind, wie sie sich fühlte, nahm sie diese Flut an Nachrichten und Nichtigkeiten bestenfalls als ein wirres Hintergrundrauschen in ihrem Bewusstsein wahr. Ab und zu ließ ein Wortfetzen sie aufhorchen, etwa weil die Kanzlerin zitiert wurde oder weil ein kurzer Einspieler plötzlich eine bekannte Stimme mit sich brachte. Doch letztlich nahm sie die paar hundert Kilometer wie im Fieber: mit einem Kopf in sinnlosem Aufruhr und einem Körper, der auf die nötigsten Funktionen reduziert war. Handy hatte sie keines dabei, nachdem sie Henriks auf dem Toilettenboden in dem kleinen Café einfach hatte liegen lassen. Sie hatte weder ihre Bestellung wahrgenommen noch ihren Kaffee bezahlt. Sie war einfach nur nach draußen gestürmt, ins Auto gestiegen und losgefahren. Heulend. Bis sie in der nächsten Ortschaft stehen geblieben war, um sich zu beruhigen, was ihr nicht gelang. Und dann war ihr Vater vor ihr aufgetaucht. Buchstäblich vor ihr aufgetaucht. Er hatte im Schnee gestanden, mitten auf der Straße, in einen dicken Mantel gehüllt, mit seiner geliebten Fellmütze auf dem Kopf, die ihm vor Generationen ein befreundeter Diplomat aus Moskau mitgebracht hatte. War vorübergegangen und hatte sie nicht einmal angesehen. Weil es nicht ihr Vater gewesen war, sondern irgendein Dorfbewohner, der sich vor dem Schnee in sein Haus flüchtete.
Und Natascha war vor ihrem Leben geflüchtet. Hatte den Motor wieder angeworfen und war ohne den geringsten Umweg auf die Autobahn gefahren, zunächst Richtung Berlin, dann aber an der Stadt vorbei und nach Westen, Hannover, Braunschweig: nach Hause. Sie hatte gar nicht darüber nachgedacht. Sie war einfach gefahren.
Und nun lag das kleine Häuschen vor ihr, in dem sie aufgewachsen war. Tief verschneit, als hätte es jemand als Motiv für eine Winterpostkarte hergerichtet. Keine noch so kleine Verwerfung verunzierte die Schneedecke der Auffahrt. Und sogar unmittelbar vor dem Eingang war nicht geschippt. Natascha rollte ganz heran, damit sie nicht so weit durch den Schnee stiefeln musste. Sie fröstelte, als sie ausstieg, bemerkte erst jetzt, dass sie in dem überheizten Wagen geschwitzt hatte. Beeilte sich, zur Tür zu kommen, und klingelte dreimal, wie sie es schon als Kind immer getan hatte, damit alle wussten, dass sie es war, die draußen stand.
Doch es öffnete niemand. Überrascht trat sie ein paar Schritte zurück und betrachtete das Haus. Es sah aus wie immer. Friedlich stand es zwischen den hohen Tannen, die unter den Schneemassen ihre Äste hängen ließen. Dann sah sie den Kamin: Es stieg kein Rauch auf. Natürlich: Die Einfahrt war nicht geräumt. Der Kamin brannte nicht. Niemand kam an die Tür – ihr Vater war nicht zu Hause! Für ein paar Augenblicke rang Natascha Eusterbeck um Fassung. Damit hatte sie nicht gerechnet. Obwohl ihr Vater gerne und auch gerne spontan verreiste. Aber sie hatte einfach nicht damit gerechnet.
Die Kälte riss sie schließlich aus ihrer Blockade. Immerhin gab es einen Schlüssel. Er lag seit vielen Jahren an einer bestimmten Stelle in der Garage. Und der Garagenschlüssel hing hinter einem Brett an der Regentonne. Fluchend stieg Natascha durch den hohen Schnee zur Tonne, auf der ebenfalls Schnee lag, zweifellos weil Wasser darin stand, das gefroren war, eine kleine Arktis. Der Garagenschlüssel war, wo er sein sollte. Sie sperrte die Garage auf. Der Wagen
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