Kalte Macht: Thriller (German Edition)
auch wenn er selbst im günstigsten Fall mit Einschränkungen im täglichen Leben wird rechnen müssen. Und auch wenn er sicher nicht mehr ganz allein wird leben können.«
»Und im ungünstigen Fall?«
»Im ungünstigsten Fall werden wir ihn nicht retten können. Ich kann das leider nicht ausschließen. Aber natürlich hoffen wir und arbeiten wir daran, ihn so gut wie möglich wieder zurück ins Leben zu bringen. Ich befürchte nur, dass Ihr Vater dauerhaft blind bleiben wird, weil der Sehnerv irreversibel geschädigt ist und dass er eine langsam, aber stetig um sich greifende Alzheimer-Erkrankung ausprägen wird.«
Natascha nickte. Alzheimer. Es überraschte sie nicht wirklich. Nicht dass sie ausgerechnet bei ihrem Vater, dem klügsten Menschen, den sie je kennengelernt hatte, eine solche Erkrankung erwartet hätte. Aber Alzheimer war der Fluch hoher Lebensjahre. Die Krankheit breitete sich wie eine Epidemie aus. Warum sollte sie ausgerechnet den brillanten Denker und Redner Wolfhardt Lippold verschonen? »Verstehe«, sagte sie. Und nach einer kleinen Weile: »Kann ich irgendetwas tun?«
Der Arzt wiegte den Kopf. »Schwer zu sagen. Medizinisch gesehen tun wir natürlich alles, was man tun kann. Aber es ist fraglos eine Hilfe, wenn ein Patient Zuspruch hat und geistig gefordert wird. Gerade auch wenn er blind ist. Allerdings rate ich davon ab, ihn in der nächsten Zeit zu besuchen. Das wird ihn zwangsläufig aufregen und das Risiko eines Schlaganfalls erhöhen.«
»Ich soll ihn nicht sehen?«
»Für kurz, ja. Aber gehen Sie nach ein paar Minuten wieder. Es ist besser für ihn. Wenn wir Sie brauchen, geben wir Ihnen Bescheid. Vielleicht könnten Sie Ihre Telefonnummer bei der Schwester hinterlassen.«
Sie hatte ihr Handy nicht dabei, wie ihr erst jetzt wieder einfiel. Es lag im Haus in Brandenburg. Bei Henrik. Dem Mann, der sie betrogen hatte. Und von dem sie ein Kind erwartete. Wenn es denn seines war. »Ich wohne ein paar Tage im Haus meines Vaters«, erklärte sie. »Die Nummer gebe ich der Schwester.«
»Danke. Und wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, rufen Sie mich jederzeit gerne an.«
»Danke, Herr Doktor Traub.«
»Gerne. Alles Gute.«
»Ihnen auch. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«
Sie verließ das Arztzimmer und schlich wie in Trance über den Klinikflur. Das Schwesternzimmer? Sie wusste nicht, wo es war. Plötzlich stand sie wieder vor dem Zimmer ihres Vaters. Vorsichtig öffnete sie die Tür, um noch einmal einen Blick auf ihn zu werfen. Er lag mit geschlossenen Augen in seinem Bett und atmete schwer. Sie sah ihn an, voll Liebe und Sorge. Da hob er auf einmal seinen Kopf. Kaum merklich, aber er hob ihn. »Ist da jemand?«
»Entschuldige, Papa. Ich bin’s noch mal. Ich wollte dich nicht stören«, sagte Natascha schuldbewusst. Sie durfte ihn nicht aufregen. Ruhe war jetzt das Wichtigste.
»Bist du allein?«
»Ja. Aber ich gehe jetzt. Schlaf gut und …«
»Komm rein. Schnell. Mach die Tür zu.« Er stützte sich mühsam auf einen Ellbogen und starrte sie mit seinem leeren Blick an. »Mir ist noch etwas eingefallen, etwas Wichtiges. Vielleicht warst du …«
In diesem Moment trat die Schwester ins Zimmer. »Transatlantische Allianz«, flüsterte Wolfhardt Lippold. »Hörst du?«
»Frau Eusterbeck, ich muss Sie wirklich bitten«, sagte die Schwester. »Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«
»Aber natürlich. Entschuldigung.« Natascha beugte sich über ihren Vater und küsste ihn sacht auf die Stirn. »Ich gehe jetzt, Papa. Wir können morgen sprechen.« Er aber packte sie mit einem Griff in den Nacken und zog sie zu sich herunter. »Transatlantische Allianz«, presste er nochmals zwischen seinen schmalen Lippen hervor. »Mai.«
»Gute Nacht, Papa.« Mit sanfter Gewalt nahm Natascha seine Hand von ihrem Hals und legte sie wieder auf die Bettdecke. Dann folgte sie der Schwester einmal mehr nach draußen, während der Patient seufzend die blinden Augen schloss.
*
»Denken Sie, er hat etwas entdeckt?«
»Entdeckt … Der Alte ist schlau. Und er weiß, wie die Branche funktioniert. Ich kann mir vorstellen, dass er einfach begonnen hat, eins und eins zusammenzuzählen.«
»Wenn das so einfach wäre, dann hätten wir all die Jahre mehr Ärger gehabt.«
»Vielleicht hat bisher bloß keiner die richtigen Fragen gestellt.«
»Und Sie denken, ausgerechnet eine Amateurin wie die Eusterbeck stellt die richtigen Fragen?«
»Ich kann mir vorstellen, dass sie nicht einmal weiß,
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