Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Weg in den Ort hatte er mehrmals genau das gedacht. Und dann hatte er vor der Bäckerei gestanden und das Protokoll der eingegangenen Anrufe auf seinem Handy aufgerufen und gefunden, was er befürchtet hatte: Michelles Nummer, entgegengenommen um 9.40 Uhr. Da war Natascha mit dem Handy unterwegs gewesen. Michelle hatte angerufen, und Natascha war rangegangen. Den ganzen Rückweg zum Haus hatte diese unselige Verkettung von Vorfällen in seinem Kopf Schleifen gezogen. »Scheiße«, fluchte er, als er endlich da war, und trat gegen die Tür. Dann setzte er sich auf die Treppe und bedauerte sein Schicksal, während ihm winzige Eiskristalle ins Gesicht wehten.
*
Dr. Peter Traub legte sein Diktiergerät aus der Hand und erhob sich, als Natascha eintrat. »Bitte, nehmen Sie Platz, Frau Eusterbeck.«
»Danke.« Sie setzte sich und vergrub ihre Hände in dem Mantel, den sie in einem Knäuel auf ihrem Schoß hielt. »Warum hat mich niemand benachrichtigt?«
»Das haben wir versucht, Frau Eusterbeck. Aber weder in Ihrem Büro noch unter Ihrem Privatanschluss war jemand erreichbar.«
Natürlich. Sie war nicht in Berlin gewesen, Petra hatte auch freigehabt, und ihre neue Handynummer hatte niemand gewusst. Sie nickte. »Verstehe. Entschuldigen Sie. Was ist denn geschehen? Medizinisch, meine ich.«
»Nun, medizinisch gesehen ist Folgendes passiert …« Dr. Traub setzte sich wieder und nahm eine Patientenakte zur Hand, zweifellos die von Wolfhardt Lippold. »Ihr Vater hat bei dem Sturz ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Auf den Röntgenaufnahmen sieht es gar nicht so bemerkenswert aus, zunächst hatten wir tatsächlich gehofft, dass es nur eine Gehirnerschütterung wäre. Aber, wie Sie ja selbst feststellen konnten, ist das Sehzentrum massiv geschädigt. Es sieht ganz danach aus, als müsste Ihr Vater damit leben, dass er sein Augenlicht nicht mehr wiedererlangt.« Der Arzt machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Wenn er überlebt.«
»Wenn er überlebt?« Natascha fuhr von ihrem Stuhl auf. »Sie meinen, er ist – immer noch – in Lebensgefahr?«
»Wir glauben, dass der kleine Schatten, den Sie hier sehen …« Er nahm ein Röntgenbild zur Hand und hielt es an die Lampe, die die Wand hinter seinem Schreibtisch hell erleuchtete. »… möglicherweise ein Hirnödem ist.«
»Sie rechnen mit einem Schlaganfall?«
»Damit müssen wir rechnen, ja. Leider.« Der Arzt blätterte in der Akte. »Sehen Sie, Ihr Vater ist alt, achtzig Jahre fast. Da kann jede schwere Verletzung tödlich enden. Es braucht nicht einmal ein Ödem dazu. Bei neun von zehn Patienten führt ein Bruch des Schädelknochens in diesem Alter zu zerebralen Ausfällen.«
»Aber er war doch eben ganz klar.« Natascha griff nach dem Röntgenbild, das der Arzt vor sie hingelegt hatte, hielt es ins Licht und betrachtete das Hirn ihres Vaters. Sie schauderte. In sein Inneres zu blicken, das war wie ein Sakrileg. Und doch konnte sie nicht anders. Mit diesem Gehirn hatte er all die klugen Dinge erdacht, die er ihr in ihrer Kindheit und Jugend und auch später noch gesagt hatte. Hier waren die Geschichten entstanden, die er an ihrem Bett erzählt hatte, hier war die Wurzel seines Humors, mit dem er so viele Freunde gewonnen hatte, und seines Zorns, der ihn seine Karriere gekostet hatte.
»Das ist richtig. Eben war er klar. Das haben wir aber auch schon anders erlebt. Und ob er sich morgen noch an Ihren Besuch heute erinnert, ist keineswegs sicher.«
»Das kann ich nicht glauben«, entgegnete Natascha und schüttelte den Kopf. »Er hat mich erkannt, noch bevor ich ihn angesprochen habe.«
»Auch das ist nichts Außergewöhnliches«, erklärte der Arzt bestimmt. Er griff nach einem Stift und schien dieses Detail in Wolfhardt Lippolds Krankenblatt zu vermerken. »Man kann es mit der Situation von Manisch-Depressiven vergleichen, auch wenn es dabei natürlich um ein ganz anderes, um ein psychisch motiviertes Problem geht: himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Hochgefühle und tiefe Depressionen wechseln sich ab. So ist es hier mit der intellektuellen Leistungsfähigkeit. In einem Moment erscheint einem der Patient geradezu genial, im nächsten dämmert er nur noch dahin.«
Fassungslos starrte Natascha Eusterbeck den Arzt an. »Was wollen Sie mir damit sagen? Dass mein Vater zum Idioten wird?«
»Um Himmels willen, Frau Eusterbeck! Wir leben doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert! Nein. Ihr Vater wird, wenn alles gut geht, wieder weitgehend gesund,
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