Kalte Macht: Thriller (German Edition)
gehörte nicht dazu.
Wolfhardt Lippold besaß keinen Kabelanschluss und keine Satellitenschüssel. Er verfügte nur über eine terrestrische Antenne. Entsprechend eingeschränkt war der Empfang von Fernsehprogrammen. Aber immerhin fand Natascha einen Nachrichtensender, der halbwegs passabel reinging. Politiker sind News-Junkies. Sie sind ständig damit beschäftigt, die Ereignisse auf der Welt zu scannen, sei es auf dem TV-Bildschirm, der – auf lautlos gestellt – permanent im Büro flackerte, sei es auf mehreren Internetseiten, sei es durch Meldungen diverser beauftragter Nachrichtendienste, die zum Teil im Minutentakt auf dem E-Mail-Server eintrafen. Oder mit Hilfe des Presseservices der Bundesregierung, der die Minister und Staatssekretäre, die Sprecher und Referenten ununterbrochen mit Informationshäppchen fütterte. Erst wenn man ein paar Tage diesem Dauerbombardement von Nachrichten entkam, erkannte man, wie unnötig dieser News-Overkill war: Man konnte in dieser Informationsflut das Wichtige vom Unwichtigen kaum noch unterscheiden.
Auf dem alten Sofa in ihrem Elternhaus sitzend sah Natascha Eusterbeck die Nachrichten und kam sich in der dort gezeigten Welt mit einem Mal ganz fremd vor. Staatsbesuch der Kanzlerin in der Volksrepublik China. Da stand sie, die Frau, mit der sie sonst mehrmals die Woche an einem Tisch saß, die mit ihr vertrauliche Gespräche führte, die als mächtigste Regierungschefin der Welt betrachtet wurde, bewundert und gefürchtet, im eisigen Wind, der auf dem Flughafen von Peking wehte, schritt schließlich die Reihen marionettenhafter Soldaten ab, lächelte in die Kameras und setzte sich an eine bemerkenswert lange Gesprächstafel, begleitet von ihrem Tross Abhängiger aus Politik und Wirtschaft, Bossen, deren Boss sie war oder sein wollte. Natascha konnte den Wirtschaftsminister erkennen, wie immer smart und elegant – zu elegant, um ernst genommen zu werden. Kanzleramtsminister Steiner mit seinem falschen Lächeln, das wie für das ZK der Kommunistischen Partei geschnitzt war. Jo Feldmann von der Nationalbank, natürlich, denn es ging vor allem um Geld, wie bei allen Staatsbesuchen. Einen anderen Banker, den Natascha bei einer Veranstaltung im Kanzleramt kennengelernt hatte, dessen Name ihr aber nicht mehr einfiel. Andere Wirtschaftsbosse. Den Arbeitgeberpräsidenten, der sich in seiner Rolle als Repräsentant der deutschen Wirtschaft sichtlich gefiel. Den IGMetall-Vorsitzenden, was Natascha wunderte, denn der stand definitiv im falschen politischen Lager. Staatsminister Frey, der, als die Kamera an ihm vorbeischwenkte, aufsah, sodass Natascha Eusterbeck das Gefühl hatte, er würde direkt zu ihr blicken. In das Wohnzimmer ihres Vaters in Braunschweig, wo sie allein saß, so allein, dass niemand Bescheid wusste, wo sie war.
Mit einem Mal graute ihr. Was, wenn ihr Vater sich das doch nicht eingebildet hatte und tatsächlich jemand ihn überfallen hatte? War es nicht möglich, dass derjenige sich noch in der Nähe aufhielt? Nein, im Haus war es kalt gewesen. Und sie hatte keine Spuren gesehen, als sie heute hier angekommen war. Aber natürlich war es möglich, dass derjenige, nun, da offensichtlich wieder jemand im Haus war, zurückkam. Sie stand auf und ging zum Fenster. Zog die Vorhänge zu, ohne nach draußen zu sehen. Sie hatte Angst davor, jemand könnte dort stehen und sie beobachten.
Mit pochendem Herzen lief sie durch die anderen Räume des Erdgeschosses und schloss auch dort die Vorhänge. Am liebsten hätte sie die Fensterläden zugemacht, doch dazu hätte sie die Fenster öffnen müssen. In der Dunkelheit wollte sie das nicht.
Sie fragte sich, ob ihr Vater eine Waffe im Haus hatte. Doch natürlich hatte er das nicht. Kein intelligenter Mensch hatte Waffen zu Hause. Höchstens vielleicht ein Jäger, doch das war ihr Vater nicht. Sie hätte auch gar nicht gewusst, wie sie mit einer Waffe umgehen sollte. Das Beil! Sie konnte sich das Beil holen. Doch dazu hätte sie nach draußen gemusst. Das Beil steckte im Holzpflock hinter dem Haus. Nein, auch das kam nicht in Frage. Also ging sie in die Küche und nahm sich eines der großen Bratenmesser und stieg damit die Treppe in ihr altes Zimmer hoch. Sie würde es mit ins Bett nehmen. Nur zur Sicherheit. Es war ja eigentlich völlig ausgeschlossen, dass jemand etwas von ihr wollte. Niemand wusste, dass sie hier war. Und wenn jemand das Haus hätte ausrauben wollen, dann wäre in den vergangenen Tagen, als es leer stand, die
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