Kalte Macht: Thriller (German Edition)
sie. »Ich werde ein paar Tage hier in Braunschweig bleiben, um die Angelegenheiten meines Vaters zu regeln. Erst einmal möchte ich dich bitten, allen Bescheid zu geben, dass und warum ich fehle. Dann sag bitte meine Termine ab.«
»Alle?«
»Alle. Bis Ende nächster Woche.«
»Auch den mit Steiner?«
Steiner hatte ihr ein paar Vorschläge präsentieren wollen, die sie in ihre Strukturreformvorschläge einarbeiten sollte. »Vor allem den«, erklärte Natascha und fühlte sich fast ein wenig befreiter. »Und ich möchte dich bitten, bei mir vorbeizukommen und mir ein paar Unterlagen zu bringen.«
»Versteh mich nicht falsch, Natascha«, sagte Petra Reber. »Ich komme wirklich gerne bei dir vorbei. Als Freundin. Wenn du Zuspruch brauchst und Trost und so. Aber wenn es nur um ein paar Akten geht, wäre ich vermutlich eine größere Hilfe für dich, wenn ich die Stellung hier im Büro halte, und Bleicher bringt dir die Sachen nach Braunschweig.«
»In dem Fall wäre es mir aber wichtig, dass du sie mir bringst und niemand anders.«
»Okay«, sagte Petra Reber langgezogen und lauschte, was dieses Gespräch noch bringen mochte. Sie hatte jedenfalls das Gefühl, als stünde sie im Begriff, Dinge zu erfahren, die sie nicht unbedingt wissen sollte. Doch Natascha hielt sich bedeckt. Sie sagte nur: »Außerdem muss ich dir etwas über mich erzählen. Über Henrik und mich.« Nun, dann würde sie vielleicht auch erfahren, weshalb Henrik Eusterbeck schon viermal im Büro angerufen und nach Natascha gefragt hatte.
*
Das Begräbnis war eine einsame Veranstaltung. Einige alte Arbeitskollegen hatten sich eingefunden, Konsularbeamte im Ruhestand, ein paar Nachbarn, alle schon alt, jeder von ihnen konnte der Nächste sein, man sah, dass die Reihen längst gelichtet waren. Und Natascha. Verwandtschaft gab es sonst nicht. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch ein Kind war, Geschwister hatte sie nicht. Es gab eine Tante mütterlicherseits, doch der Kontakt zu ihr war nach Mamas Tod schon bald abgebrochen, es war für alle gewesen, als seien sie Glieder eines Körpers, der nur durch einen gemeinsamen Schmerz zusammengehalten wurde. So existierten sie lieber getrennt voneinander fort.
Der Pfarrer der nahe gelegenen Kirchengemeinde sprach ein paar nette Worte über den Verstorbenen, den er allerdings kaum gekannt hatte, Wolfhardt Lippold war kein Kirchgänger gewesen. Dennoch war Natascha ihm dankbar. Sie selbst hätte nichts sagen können, nicht an diesem Tag.
Nach der Beisetzung verlief sich die kleine Gesellschaft rasch, und sie blieb allein am Grab zurück. Selbst der Pfarrer hatte es eilig gehabt wegzukommen. Es hatte zu schneien begonnen. Natascha stand noch einige Zeit in stummer Zwiesprache mit ihrem Vater. Es quälte sie, dass sie ihm nicht mehr hatte sagen können, dass sie schwanger war. Es quälte sie auch, dass sie es ihm nicht einmal hätte sagen wollen, wenn sie noch Gelegenheit dazu gehabt hätte. Diese Schwangerschaft war ein Albtraum. Natascha hatte das Gefühl, als sei der Feind in sie eingedrungen und zehre sie von innen heraus auf. Als sie noch ein Leben gehabt hatte, das Freundschaften zuließ, hatte sie einige Freundinnen gehabt, die schon früh in der Schwangerschaft eine innige Beziehung zu dem Ungeborenen aufbauten. Das Kind war ihr Kind von dem Moment an, in dem sie von ihm erfahren hatten. Es war Teil ihres Lebens – und sie begannen für das Kind zu leben, mehr als für sich selbst.
Natascha Eusterbeck hingegen, die aus ihrem körperlichen Dasein nie eine große Sache gemacht hatte, empfand die Abwesenheit eines Zyklus plötzlich wie eine persönliche Beleidigung, ja, sie fühlte sich durch die Schwangerschaft herabgewürdigt, so sehr, dass sie sich selbst verabscheute für die Kälte, mit der sie dem Kind, das in ihr wuchs, begegnete. »Du kannst nichts dafür«, flüsterte sie, als sie sich endlich zum Gehen wandte. »Es tut mir leid.« Irgendwann, das war klar, musste sie zum Arzt. Das war sie auch sich selbst schuldig. Ob sie das Kind behalten wollte, wusste sie immer noch nicht.
Jetzt, da ihr Vater tot war, fühlte sich das Haus in Braunschweig noch leerer an. Natascha hatte persönlich im Kanzlerbüro Bescheid gegeben, dass sie ein paar Tage Auszeit nahm, weil sie den einzigen Verwandten zu Grabe tragen musste, den sie noch gehabt hatte. Man war ihr mit großer Anteilnahme begegnet. Sogar Bernhard Bauer, der persönliche Referent der Kanzlerin, hatte ihr die besten Grüße von ganz oben
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