Kalte Macht: Thriller (German Edition)
hatte sie gelogen? Nein. Benutzt? Was hatte sie von ihm verlangt, das er ihr nicht ungefragt gerne gegeben hätte? Nein, auch benutzt hatte sie ihn nicht wirklich. Henrik Eusterbeck suchte im Gesicht dieser Frau, die ihm plötzlich so fremd war, nicht die Antworten, sondern die Fragen. Und dann hatte er sie endlich. Auf einmal war ihm klar, wo die Wurzel der Erkenntnis lag: »Was wolltest du draußen am Valmensee? Warum warst du da?«
»Warum nicht?«, sagte Michelle und hielt sich unwillkürlich an der Rückenlehne des Sessels fest. Da wusste Henrik, dass er die richtige Frage gestellt hatte. »Das war kein Badeausflug«, sagte er. »Und du bist auch nicht dort verabredet gewesen, wie du behauptet hast.« Er zog das Foto aus seiner Jacke, das er in der Wohnung im Wedding gefunden hatte, und hielt es ihr hin. »Wer ist das? Was für ein Spiel spielt ihr hier? Ist sie …« Unvermittelt trat Michelle auf ihn zu und hielt ihm die Hand vor den Mund. Mit der anderen packte sie ihn im Nacken und zog ihn zu sich herab. Er spürte ihren heißen Atem, als sie ihm ins Ohr flüsterte: »Genug. Wir müssen das unter uns besprechen. Komm mit ins Badezimmer.«
Sie ließ ihn los und ging voraus. Das Badezimmer war schon eher so, wie er es sich bei einer Professionellen vorstellte: große Wanne, lauschige Beleuchtung, viele Spiegel. Michelle drehte die Hähne von Waschbecken und Bidet voll auf und knipste die Lüftung an, sodass in dem Raum ein diffuses Rauschen die Luft zum Vibrieren brachte. Dann setzte sie sich auf den Rand der Wanne und nickte ihm zu, sich neben sie zu setzen. »Unter uns?«, fragte er, doch er wusste längst, was ihre seltsame Äußerung bedeutete.
»Hier höre nicht nur ich zu.«
Henrik nickte. »Sie kontrollieren dich?«
»Ja. Sie haben es mir sogar vorher gesagt.«
»Verstehe. Der Preis dafür, dass du einen exklusiven Kundenstamm hast.«
»Mhm. Einen scheißexklusiven Kundenstamm.«
»Also?«
»Also was?«
»Warum warst du wirklich da?«
»Man hat mich gebucht.«
»Wer hat dich gebucht?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Ich denke, so hört uns niemand.«
»Darum geht es nicht. Das ist Ehrensache.«
»Hurenehre, ja?«
»Ja«, sagte sie trotzig. »Kommt dir vielleicht komisch vor, aber ja. So ist das. Auch in dem Gewerbe gibt es Regeln.«
»Was für ein Auftrag war das?«
»Baden gehen. Escort.«
»Escort für mich?«
Michelle nickte. Sie war also tatsächlich auf ihn angesetzt worden. »Und?«, fragte er. »Waren deine Auftraggeber zufrieden?«
»Der Job ging jedenfalls weiter.«
»Verstehe. Und du hast ihn verdammt gut gemacht. Aber du bist ja auch Profi , Michelle .«
»Das ist nicht fair«, sagte sie und unterdrückte nur mühsam ein Schluchzen. »Ich mochte dich wirklich. Vom ersten Moment an. Es hat mir Spaß gemacht. Es … es war keine Arbeit. Nicht wirklich.«
»Nicht wirklich«, echote Henrik und ließ den Blick in die Winkel des Badezimmers gleiten auf der Suche nach Hinweisen auf versteckte Mikrofone. Vielleicht hatten sie ja auch Minikameras eingebaut? Immerhin hätte es bei Michelle etwas zu sehen gegeben. »Waren es dieselben Leute, die dich auch abhören?«
»Vermutlich.«
»Nun, irgendjemand muss dir ja den Auftrag erteilt haben.«
Sie zögerte einen Augenblick. Dann wischte sie sich die Augen und nickte. »Es waren dieselben.«
»Wer ist deine Freundin auf dem Foto?«
»Eine Kollegin.«
»Ist sie verschwunden, oder haben wir die ganze Zeit ein Phantom gejagt? War das Foto Teil des Plans?«
»Sie hat mit dir gar nichts zu tun, Martin.«
»Ich heiße Henrik.«
»Ich weiß. Aber ich möchte dich Martin nennen. Für mich bist du Martin.« Sie zog die Nase hoch. Erst jetzt fiel Henrik auf, wie blass sie war. »Sie hatte mit euch gar nichts zu tun«, wiederholte sie. »Aber sie wollte aussteigen. Und aussteigen ist in diesem Spiel nicht erlaubt.«
»Sie wollte auspacken. Über ihre Kunden aus Politik und Wirtschaft?«
Michelle nickte.
»Und was haben sie mit ihr gemacht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und mit dem Mädchen?«
Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich will es lieber nicht wissen. Solche kleinen Dinger sind begehrt.«
Henrik hätte kotzen mögen. »Gut. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast für dieses Gespräch.« Er stand auf, ging zur Tür. Da spürte er ihre Hand auf seinem Rücken. »Martin?« Er wandte sich noch einmal zu ihr um. Sie sah müde aus, erschöpft. Und bestürzt. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ehrlich. Ich weiß nicht, was
Weitere Kostenlose Bücher