Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Antwort darauf ist so einfach wie erschütternd: Was in diesem Artikel als der große Skandal benannt wird, das war in Wirklichkeit weit weniger gravierend als der noch unbekannte Skandal, hinter den die damalige Schatzmeisterin gekommen war. Sie hatte etwas herausgefunden, was von so viel größerer Tragweite war als der Steuerskandal, in den Brass damals verwickelt war, dass womöglich nicht nur der Ex-Kanzler darüber gestürzt, sondern die ganze Republik zu Fall gekommen wäre …
Henrik Eusterbeck spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er sah von dem Konvolut auf und schüttelte ungläubig den Kopf. »Oh Gott, Natascha«, stöhnte er. »In was bist du da bloß hineingeraten?«
*
Es war unglaublich still am See. Nur das panische Keuchen von Natascha Eusterbeck unterbrach die Stille zwei, drei Mal. Und ein leises Knacken war zu hören, als sie aus dem Gleichgewicht kam und sich mit einem Knie auf dem Eis abstützen musste. Zu dünn, schoss es ihr durch den Kopf. Aber wenn sie die Hände mit aufstützte, konnte sie ihre Basis verbreitern und sich absichern. »Was wollen Sie von mir?«
Ein mitleidiges Lächeln hob seine schlaffen Wangen. Dieser Mann hielt nicht zum ersten Mal eine Waffe auf einen Menschen gerichtet. Die Lässigkeit, mit der er es tat, ließ Nataschas Herz aus dem Takt kommen. Er ist imstande zu schießen, dachte sie. Etwas Amüsiertes umspielte Lafrages Augenwinkel. Es fiel ihm nicht schwer, ihre Gedanken zu lesen. »Die Frage ist doch, was Sie von mir wollen«, erklärte er und setzte sich auf den Baumstamm, an dem Nataschas Stiefel standen.
»Ich verstehe nicht.« Natascha spürte, wie ihre Handflächen auf dem Eis festfroren. Sie versuchte sich wieder aufzurichten, doch es war schon zu spät. Das gefrorene Wasser, die klirrend kalte Luft und die abgesunkene Oberflächentemperatur ihrer Haut waren eine unselige Verbindung eingegangen.
»Aber sicher verstehen Sie.« Er betrachtete die Pistole, die schwarz glänzend in seiner behandschuhten Hand lag. »Seit Monaten spionieren Sie mir hinterher. Sie haben meinen Lebenslauf recherchiert, meinen Bekanntenkreis durchleuchtet und sich sogar erdreistet, in mein Büro in Köln zu kommen, um meinem Partner Gero Mai gewisse Unterstellungen zu präsentieren.«
Durchhalten, dachte Natascha. Du musst jetzt durchhalten. Was bringt es ihm, wenn er dich erschießt? Im Gegenteil: Solche Leute wollten stets zwei Dinge: Macht und Informationen, denn Informationen waren ebenfalls Macht. »Sie sind eine interessante Persönlichkeit, Dr. Lafrage«, sagte sie, immer noch in der Haltung eines Leichtathletikläufers beim Start. Ihr Rücken begann zu schmerzen.
»Und die Transatlantische Allianz?«, entgegnete Lafrage unbeirrt. »Sind Sie von der auch so beeindruckt?« Er stand auf und ging die zwei Schritte zum Ufer. Mit einem Fuß drückte er auf das Eis. Wasser schwappte darunter hervor. »Nicht mehr sehr sicher«, stellte er fest und setzte sich wieder. »Sie sollten vorsichtig sein.«
»Ich fühle mich ziemlich sicher.«
Lafrage lächelte nun deutlich amüsiert. »Wissen Sie was, Frau Eusterbeck? Sie gefallen mir. Schade, dass Sie für die Falschen arbeiten.«
»Ach. Für wen arbeite ich denn?«
»Das weiß ich leider nicht. Aber Sie werden es mir sagen.«
Natascha schwieg. Wenn ihr Blut weiterhin so schnell durch ihren Leib pumpte, mussten dann die Hände sich nicht erwärmen? Musste sie nicht wieder loskommen? Natürlich, allein auf dem Eis hatte sie kaum Chancen gegen einen Mann, der in sicherer Entfernung am Ufer stand und bewaffnet war. Und doch, wenn sie frei wäre, vielleicht könnte sie ihn irgendwie überraschen, indem sie mit einigen gewagten Pirouetten und Sprüngen davonjagte. Ein bewegliches Ziel war schwerer zu treffen als ein statisches. Und es war nicht auszuschließen, dass Lafrage der klassische Schreibtischtäter war und womöglich ein schwacher Schütze. »Nun?«, drängte er.
»Das wissen Sie doch alles längst«, bluffte Natascha und versuchte, ihrer Stimme einen betont gelangweilten Ton zu geben. »Oder trauen Sie Ihren eigenen Leuten nicht?«
Diesmal war es Lafrage, der schwieg.
»Was ich bis heute nicht verstehe, ist, wie Sie die Mitglieder Ihrer Allianz dazu gebracht haben, dem Verein beizutreten.«
»Wieso? Sie haben sich doch selbst dafür beworben.«
»Der Unterschied ist, dass ich es nicht ernst gemeint habe.« Eine Hand schien sich ein wenig zu lösen. Natascha atmete auf.
»Mitglied wird man auf Einladung.
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