Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Gegner in der Luft zerrissen wurden. Geschmeidigkeit, Beharrlichkeit und die nötige Dosis Amoral waren dafür die Voraussetzungen, gepaart natürlich mit hoher Intelligenz und jahrelanger Praxis. Jeder hier wusste, dass das Kanzleramt – so wie jedes Ministerium – sehr gut auch ohne Kanzlerin oder Minister auskam. Die Köpfe waren das, was beizeiten abgehackt wurde – entweder vom Wähler oder, was sehr viel interessanter war, von den Umständen. Das Kanzleramt war ein Ozean, der seine wichtigsten Mitglieder trug und sie irgendwann verschlang.
Besonders gespannt war Natascha auf Dr. Stephanie Wende, die dritte Staatssekretärin im Kanzleramt. Sie hatte eine merkwürdig unauffällige Personalie: Obwohl zuständig für die kompliziertesten Materien, unter anderem die großen Fragen der Wirtschaftskrise, Eurorettung und internationalen Zusammenarbeit, trat sie nie an die Öffentlichkeit und wurde von der Presse praktisch völlig ignoriert. Was wiederum damit zusammenhängen mochte, dass kaum jemand von ihr wusste. Auch Natascha kannte sie ja nur vom gelegentlichen Grüßen im Parlament oder von einer Parteisitzung.
Ihr Büro lag etwas abseits, fast als hätte sie es darauf abgesehen, nicht so sehr im Mittelpunkt zu stehen. Natascha klopfte unangemeldet an und stellte sich der Sekretärin, einer ausgesprochen liebenswürdigen, schon etwas älteren Frau, als neue Kollegin von Frau Dr. Wende vor. »Ob Frau Wende wohl gerade gestört werden darf? Ich möchte mich eigentlich nur kurz vorstellen, wir kennen uns noch gar nicht richtig.«
»Ach, da wird sie sich aber bestimmt freuen. Setzen Sie sich doch einen Augenblick«, sagte die Sekretärin, wies auf einen Besuchersessel neben der Tür und verschwand im Zimmer der Staatssekretärin. Keine halbe Minute später war sie wieder zurück. »Bitte schön, Frau Dr. Eusterbeck, treten Sie ein.«
Die Kollegin kam ihr schon auf halber Strecke entgegen. »Liebe Frau Eusterbeck! Wie schön, dass Sie bei mir vorbeischauen. Entschuldigen Sie bitte, dass ich noch gar nicht bei Ihnen war, um Ihnen noch mal zur Ernennung zu gratulieren.« Stephanie Wende war eine kleine, hagere Frau, deren Frisur und Makeup so strikt saßen, als wäre sie eine Comic-Heldin – auch wenn sie im Übrigen absolut nichts gemein hatte mit den kurvenreichen Powerfrauen aus der gezeichneten Welt der Männerfantasien.
»Ich bitte Sie, liebe Frau Wende, es ist doch an mir, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Das wollte ich hiermit gerne tun und Ihnen sagen, dass ich mich auf die Zusammenarbeit freue.«
»Ganz meinerseits!« Sie setzten sich an den kargen Besprechungstisch in Stephanie Wendes überraschend engem Büro. Natascha sah sich unauffällig um. Keine persönliche Handschrift. Keine Fotos. Kein Symbol für irgendwelche Vorlieben, sei es der obligatorische Golfball als Briefbeschwerer oder die Plakette an der Wand, die anzeigte, welche Preise als Dressurreiterin sie einst errungen hatte. Keine antike Porzellanpuppe und kein Freundschaftsband von der kleinen Tochter am Arm. Die Staatssekretärin fing Nataschas Blick auf. »Es ist etwas eng hier«, sagte sie entschuldigend. »Aber ich mag es ganz gern. Es hilft dabei, sich auf die Sachfragen zu konzentrieren.«
»Oh, es ist prima«, sagte Natascha und errötete leicht. »Nein, wirklich. Wissen Sie, ich mache meine Runde im Haus, auch weil ich mich ein wenig orientieren möchte.«
»Es gibt diese Pläne …«
»So meinte ich das gar nicht. Herr Jäger hat mich mit allem ausgestattet.« Natascha versuchte, möglichst unbefangen zu lächeln. »Ich meinte mehr, dass ich versuchen muss, mich mit den Menschen bekannt zu machen, die ich noch nicht kenne. Und auch ein wenig zu verstehen, wie die Dinge hier funktionieren.«
»Sie meinen hier im Kanzleramt?«
»Ja. Sie wissen schon: Wer arbeitet wem zu? Wo verlaufen die engen Linien, wo …« Sie holte Luft, suchte nach den richtigen Worten.
»Wo verlaufen die Brüche«, führte die Wende den Gedanken zu Ende. »Wer ist mit wem dicke, wer mit wem über Kreuz. Welche Seilschaften gibt es und so weiter, richtig?«
»Na ja, Sie drücken es etwas überspitzt aus …«
»Aber gar nicht, meine Liebe. Sehen Sie, ich weiß genau, was Sie meinen. Mir ging es doch genauso. Allen geht es so. Jeder weiß, dass er in ein Raubtiergehege gestoßen wird, wenn er hier anfängt. Und da möchte man dann gerne wissen, wo die großen Brocken sich verborgen haben, welche Schwärme es gibt, wo die Untiefen sind, eben das ganze
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