Kalte Macht: Thriller (German Edition)
verschwand, und Natascha war einen Moment lang versucht, nach ihren Unterlagen zu greifen, die sie sich – beinahe reflexhaft – mitgenommen hatte. Doch eigentlich war das hier die beste Gelegenheit, nicht auch noch Schreibtischarbeit zu tun. Sie musste lernen, dass es besser war, eine Stunde über eine Sache nachzudenken, als einen Tag daran zu arbeiten. Also ließ sie den Blick durchs Restaurant schweifen, während der Ober ihr Wasser brachte und einschenkte, und betrachtete die Gäste, von denen viele offensichtlich aus touristischen Gründen hier waren.
Gerade hatte sie die Karte aufgeschlagen und liebäugelte spontan mit dieser wunderbaren Bouillabaisse Marseillaise, die sie hier schon einmal gegessen hatte, da traf Kanzleramtsminister Hans Steiner ein. Er scannte den Laden mit seinem Blick, übersah sie dabei geflissentlich, dann schnippte er nach dem Ober. Natascha konnte nicht hören, was er sagte, aber er deutete auf einen Tisch am anderen Ende des Restaurants, an dem ein junges Paar saß, offensichtlich in einen Flirt vertieft. Der Ober zuckte die Achseln, redete auf Steiner ein, krümmte sich unglücklich, ehe er – noch immer den Vorhaltungen des Ministers ausgesetzt – zu dem besagten Tisch ging, um wenig später wieder zu Steiner zu wechseln und mit ihm zu reden. Natascha Eusterbeck war noch ganz in das Schauspiel versunken, als sie plötzlich von der Seite angesprochen wurde: »Frau Staatssekretärin?«
»Ja.«
»Der Herr Minister würde sich freuen, Sie an seinen Tisch bitten zu dürfen.«
»Ja, gewiss«, sagte Natascha und stand auf. Sie griff nach ihrer Tasche, überlegte einen Moment, ob sie nun ihr Glas nehmen sollte, verwarf den Gedanken sogleich und folgte der Bedienung, die vorausging – zu jenem Tisch hin, an dem eben noch das junge Pärchen gesessen hatte. Dort hatte Dr. Hans Steiner Platz genommen und studierte bereits die Karte. Am Nebentisch saßen seine beiden Personenschützer. »Frau Eusterbeck, wie schön. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
»Guten Tag, Herr Dr. Steiner.« Aus den Augenwinkeln sah sie, dass das junge Paar von einem anderen Ober an der Bar platziert wurde.
»Tut mir leid, dass man Sie an den Katzentisch gesetzt hatte.« Er nickte zu dem Platz hinüber, an dem Natascha gerade noch gewesen war. »Ich hatte ausdrücklich diesen Tisch reserviert.«
»Verstehe.« Auch wenn sie nicht verstand, was an diesem Tisch, der kaum hinter den hohen Marmorsäulen verborgen lag, besser sein sollte als an dem anderen. »Sie sind Stammgast hier?«
»Tja, irgendwo muss man ja essen, nicht wahr? Nehmen Sie den Rochen. Er ist ausgezeichnet. Aber sagen Sie dem Ober, er soll das Zitronengras weglassen. Ich weiß nicht, wo sie das beziehen, aber der Lieferant sollte dringend gevierteilt werden.«
Natascha lächelte, wie man lächelt, wenn man einen unlustigen Witz hört. Doch Steiners Gesicht machte nicht den Eindruck, als sollte es ein Witz sein. Er lächelte das ewige Zahnspangenlächeln, auch wenn er natürlich keine Spange trug. Trotzdem sah er so aus, vielleicht weil er irgendwann in seiner Jugend eine gebraucht hätte. »Und was nehmen Sie?«
»Ach, ich denke, heute entscheide ich mich für das Risotto.«
»Das klingt doch auch gut. Ich denke, das nehme ich. Ein Rochen wird ja hier wohl noch öfter vorbeischwimmen.« Sie schenkte ihm ein freundschaftliches Zwinkern und nickte dann dem Ober zu, der ihr Wasser an den Tisch gebracht hatte und ihr nachschenkte.
»Ich habe gehört, ich hätte Sie mit einer wichtigen Aufgabe beauftragt«, sagte Steiner unvermittelt. Sein Lächeln war plötzlich das einer Schaufensterpuppe.
»Die Kanzlerin …«, versuchte Natascha Eusterbeck zu erklären. Natürlich, das Kanzleramt unterstand ihm. Er hätte den Auftrag erteilen müssen. Doch wozu sollte sie das eigentlich erläutern? Steiner wusste offenbar, womit die Regierungschefin sie betraut hatte. Wenn sie ihn nicht gefragt hatte, dann lag das nicht in Nataschas Verantwortung.
»Ja, die Kanzlerin. Eine kluge Frau. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war, es in Ihre Hände zu legen, Vorschläge für eine bessere Struktur des Bundeskanzleramts zu erarbeiten – und nicht in die von jemandem, der das Amt gut kennt, Jahre dort arbeitet, längst vertraut ist mit den guten und den schlechten Seiten.« Sie fühlte sich unter seinem eisigen Blick wie ein Reh auf nächtlicher Fahrbahn im Angesicht des blendenden Scheinwerferlichts. »Ein unbefangener Außenstehender
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