Kalte Macht: Thriller (German Edition)
war. »Wo sind Sie?«, fragte Natascha.
»Ich bin …« Die Frau weinte. Es war deutlich zu hören. »Ich … Alexanderplatz.«
»Okay. Wir treffen uns in zwanzig Minuten vor der Humboldt-Uni. An den Bücherständen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf.
*
Berlin funkelte. Nicht nur weil Unter den Linden wie so oft die Baustellensignale mit den Autoscheinwerfern um die Wette blinkten. Die Fassaden der klassizistischen Bauten waren in angeberisches Licht getaucht, wohin man sah, präsentierte sich die Hauptstadt in einem Selbstbewusstsein, das der chronischen Finanznot in nichts nachstand. Natascha Eusterbeck hatte ein Taxi genommen und sich zum Café Einstein fahren lassen und lief von dort aus die kaiserliche Prachtallee zu Fuß Richtung Universität, obwohl der schneidende Wind kleine Eiskristalle durch die Straßen trieb. Halb acht. Sie hatte nicht daran gedacht, dass die Buchhändler vor dem Universitätsgebäude vielleicht schon ihre Stände abgebaut hatten – wenn sie bei der Kälte überhaupt dastanden.
Einer hatte immerhin die Stellung gehalten. Schon beim Näherkommen konnte Natascha die Gestalt einer ziemlich groß gewachsenen Frau ausmachen. Unwillkürlich sah sie sich nach einem Kind um. Doch wenn die Frau wirklich seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause gewesen war, würde sie ihre Tochter nicht dabeihaben. Ein ungutes Gefühl beschlicht sie: Falls die Unbekannte wirklich in Gefahr schwebte, dann war dieses Treffen womöglich auch gefährlich.
Natascha verlangsamte ihre Schritte, damit es nicht zu sehr nach Verabredung aussah, trat an den Stand und tat, als würde sie sich die Bücher ansehen. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass die Frau tatsächlich schwarz war. Trotz der Abendstunde trug sie eine Sonnenbrille. Natascha zog sich den Schal über den Mund und wandte sich ab, Richtung Straße. So unauffällig wie möglich blickte sie sich um. Doch wer vermochte schon im blitzenden Dunkel einer belebten Berliner Nacht zwischen Hunderten Passanten und Hunderten Autos zu sagen, ob sich jemand für ein paar Frauen interessierte, die einen Bücherstand vor dem Unigebäude durchstöberten. Jeder konnte ein unerwünschter Beobachter sein. Die Wartenden an der gegenüberliegenden Bushaltestelle. Der Taxifahrer, der ein paar Meter weiter parkte. Die unsichtbaren Gestalten hinter den Fenstern …
»Gehen Sie in das Neue Museum«, raunte Natascha durch den Schal, gerade so laut, dass die Frau sie verstehen würde. »Im Saal vor der Nofretete gibt es Schaukästen mit alten Schriften. Ich warte dort auf Sie.« Dann ging sie weiter. Schaute sich interessiert die Plakate vor dem Historischen Museum an, bewunderte im Vorbeigehen das herausgeputzte Kronprinzenpalais und schlenderte dann hinüber auf die Museumsinsel, um dort eilig dem Eingang des Neuen Museums zuzustreben. Hier schnitt ihr der Wind so heftig ins Gesicht, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, als würde ihr jemand folgen. Doch als sie sich umdrehte, sah sie nur ein paar Passanten, die in die entgegengesetzte Richtung gingen.
Sie zeigte ihren Ausweis vor, der sie als Bundestagsabgeordnete auswies und ihr freien Eintritt bescherte. »Einen Augenblick bitte«, sagte der Uniformierte und ging mit ihrem Abgeordnetenausweis in einen kleinen Raum neben dem Eingang. Als er zwei Minuten später wieder herauskam, schenkte er ihr sein bestes falsches Lächeln und verbeugte sich knapp. »Willkommen im Neuen Museum.«
»Danke«, erwiderte Natascha, ließ den Blick über die anderen Besucher schweifen, konnte aber niemanden ausmachen, der ihr verdächtig erschienen wäre. Seit der Begebenheit auf der Rückfahrt von Braunschweig litt sie ohnehin an einer gewissen Paranoia. Im Zusammenhang mit der ominösen Frau schien sich dieser Verfolgungswahn noch zu verschärfen.
Sie knöpfte ihren Mantel auf, löste den Schal und stieg die Treppen hoch in die zweite Etage. Es war lange her, dass sie in diesem Museum gewesen war – in irgendeinem Museum. Für solchen Luxus hatten Berufspolitiker keine Zeit. Der freie Eintritt war etwas ganz und gar Hypothetisches.
Keramiken, alter Schmuck, Helme und Skulpturen säumten den Weg zur ägyptischen Königin. Man hatte die Büste sehr suggestiv ans Ende einer Zimmerflucht platziert und im Halbdunkel gezielt angestrahlt, sodass sie den Besucher erwartete, ihm mit ihrer blendenden Schönheit entgegenblickte.
Natascha allerdings ließ sich scheinbar völlig fesseln
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