Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Jemand wollte sie unter Druck setzen. Und wenn sie ihn einfach ignorierte? Sie musste lächeln, als sie bemerkte, dass sie ganz natürlich davon ausging, dass es ein Mann war. Es konnte aber ebenso gut eine Frau sein.
Sie nahm wieder das Organigramm zur Hand, das sie viele Stunden früher am Tag studiert hatte. »Bundeskanzleramt« stand darüber. »Dienststellen, Referate, Organisation, Leitung«. Das Ganze sah aus wie ein umgekehrter Stammbaum. Oben stand der Kanzleramtsminister. Dr. Hans Steiner. Er leitete die Behörde. Die Kanzlerin leitete die Regierung. Was zwar bedeutete, dass sie ihn feuern konnte, nicht aber seine Untergebenen. Mit Ausnahme möglicherweise der Staatssekretäre, das würde Natascha noch einmal nachschlagen müssen. Die Staatssekretäre standen unter dem Kanzleramtsminister. Dann kamen die Abteilungsleiter, die Referatsleiter, die Referenten – der Pressesprecher und sein Stab bildeten einen Nebenstrang. Natascha fragte sich, ob irgendwo auf diesem Papier auch der Mensch verzeichnet war, der sich auf sie eingeschossen hatte. Sie musterte die Namen, als könnte einer von ihnen sich verraten. Dann nahm sie einige Stifte in unterschiedlichen Farben zur Hand und begann, politische Freundschaften und Abhängigkeiten in jeweils einer identischen Farbe zu markieren. Doch schon bald merkte sie, dass sie dafür zu wenig Einblick in die Interna hatte. Sie kannte die meisten Spieler auf diesem Feld noch nicht – und sie konnte nicht einschätzen, wer mit wem dicke war.
Das Display ihres Handys leuchtete auf. Henrik. Sie zögerte kurz. Gerade hatte sich der Knoten in ihrem Kopf gelöst. Wenn sie jetzt telefonierte, musste sie sich erneut durch das Personengeflecht kämpfen. »Entschuldige, Schatz«, flüsterte sie und drückte das Gespräch weg. Eine Weile blieb sie reglos sitzen und starrte das Organigramm an, das sich wie ein Krake vor ihren Augen ausbreitete. Dann erkannte sie plötzlich, wie es gehen konnte: Sie musste den umgekehrten Weg nehmen! Was sie wusste, war, dass etwa die beiden Staatssekretäre Frey und Wende einander nicht ausstehen konnten. Diesen beiden konnte sie schon mal unterschiedliche Farben geben. Sie würden keinesfalls ein unsichtbares Netzwerk bilden. Und David Berg konnte sie eine eigene Farbe zuteilen. Er war ohne Zweifel in keinem der beiden Lager – wenn es denn solche Lager gab. Sie zeichnete ihn blau an. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, sich selbst auch eine blaue Markierung zu verpassen, indem sie ihren eigenen Namen in das Feld neben Frey und Wende setzte. Doch dann wurde ihr bewusst, wie gefährlich eine solche Zuordnung gewesen wäre. Nur dass David Berg charmant und gut aussehend war und man sich mit ihm besser unterhalten konnte als mit jedem anderen hier im Haus, durfte nicht dazu führen, dass sie ihn voreingenommen sah. Er war genau wie alle anderen … Natascha Eusterbeck stutzte. Was war er? Was waren alle anderen? Sie wusste, was sie dachte. Aber es erschreckte sie, dass sie so dachte. In diesem Augenblick wurde ihr zum ersten Mal klar, dass sie ein fatales Denkgebäude errichtete. Denn alle, die vor ihr auf diesem Zettel vermerkt waren, waren für Staatssekretärin Natascha Eusterbeck plötzlich vor allem eines: verdächtig.
Erneut sah sie aus den Augenwinkeln das Display aufleuchten. Sie seufzte und griff nach dem Handy. »Entschuldige, Henry«, sagte sie. »Ich bin gerade mit einer kniffligen Sache beschäftigt.« Doch es war nicht Henrik. Es war die Frau, die sie am Bahnhof versetzt hatte. »Frau Eusterbeck«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht in Gefahr bringen.«
»Hören Sie, wer immer Sie sind …«
»Ich weiß, Sie kennen mich nicht. Aber Sie müssen hören, was ich Ihnen sagen möchte.«
Die Frau hatte ihre Chance gehabt. Wenn man in Nataschas Position war, musste man sich auch selbst schützen. Gut möglich, dass diese Geschichte den gleichen Hintergrund hatte wie die Geschehnisse auf der Rückfahrt von Braunschweig oder der blinde Alarm um ihren Vater. Jemand versuchte, sie unter Druck zu setzen, jemand wollte ihr zweifellos schaden, sie verunsichern, ihr den Mut nehmen – wenn nicht Schlimmeres. Natascha war bereits im Begriff, das Gespräch zu beenden. Doch dann stand ihr plötzlich wieder das Bild von dem Mädchen vor Augen, wie es sie am Bahnhof angesehen hatte. Und sie hörte die kindliche Stimme wieder, die ihr gesagt hatte, dass die Mutter seit gestern nicht mehr zu Hause gewesen
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