Moment das Blaulicht auf dem Dach.
»Herr Bleicher!«
»Keine Sorge, ich werfe das Martinshorn nicht an. Die sollen uns nur nicht für irgendjemanden halten, sondern schnell vorlassen.«
Was dann auch geschah. Natascha war dankbar für Bleichers Geistesgegenwart. Als sie vor der Tür angekommen waren, sprang sie aus dem Wagen und lief zur Pforte. »Guten Abend. Eusterbeck. Ich suche meinen Vater. Er ist heute hier eingeliefert worden. Wolfhardt Lippold.«
Der Mitarbeiter am Empfang warf ihr einen prüfenden Blick zu, sah dann zu dem blinkenden Wagen hin, der immer noch vor der Tür stand, und fragte müde: »Und weswegen ist er eingeliefert worden?«
»Ein Unfall. Professor Knauer hat mich angerufen.«
»Knauer?« Seine Miene wurde noch etwas skeptischer. Er wandte sich um, Natascha konnte nicht sehen, zu wem. »Kennst du einen Professor Knauer?« Dann drehte er sich wieder zu der verzweifelten Frau, die vor ihm stand. »Also, einen Professor Knauer kennen wir hier nicht. Aber jetzt sehen wir mal nach, ob wir wenigstens einen Herrn Lippold finden.« Er klickte sich durch verschiedene Register, die Natascha sich in seiner Brille spiegeln sah, winzig klein, Tausende von Patientennamen mussten dort stehen, die Charité war eine Stadt in der Stadt. Schließlich zuckte der Mann die Achseln und nahm die Hände von der Tastatur. »Und Sie sind sicher, dass er in die Charité eingeliefert worden ist?«
»In die Charité«, murmelte Natascha. Plötzlich wirkte das alles wie ein Potemkinsches Dorf auf sie: das Blaulicht, die kalte Kulisse der Klinik, der Mann, der ihr sichtlich nicht glaubte. Wie gemalt. Von Edward Hopper. Und sie mittendrin. Allein. »Nein«, sagte sie. »Ich bin nicht sicher.« Sie wandte sich ab. »Ich dachte nur.«
*
Als Henrik wenige Minuten später eintraf, war Natascha bereits wieder auf dem Weg ins Kanzleramt. »Haben Sie meine Frau gesehen?«, keuchte er am Empfang. »Natascha Eusterbeck.«
»Keine Ahnung«, brummte der Mann hinter der Glasscheibe. »Ist sie hier Patientin?«
»Ihr Vater ist Patient. Wolfhardt Lippold.«
»Ist entweder eine Verwechslung oder versteckte Kamera, wa?« Da war kein Anflug eines Lächelns. Der Mann war ganz einfach genervt. Auf Henriks verständnislosen Blick ergänzte er: »Ja, Ihre Frau war da. Und nein, ein Herr Lippold ist nicht da. Der muss woanders eingeliefert worden sein.«
»Verstehe. Danke.« Verärgert wandte Henrik Eusterbeck sich ab. Er warf noch einmal einen Blick auf Nataschas Nachricht. Doch die lautete unmissverständlich: Papa in der Charité. Und davon gab es nun mal nur eine. Er wählte das Handy seiner Frau an. Doch sie ging wieder einmal nicht ran.
Es hatte zu regnen begonnen, und er hatte seinen besten Anzug an – aber keinen Schirm dabei. Fluchend rannte er zum Parkplatz zurück und stieg schnell in den Wagen. Noch einmal rief er seine Frau an. Diesmal hatte er Glück. »Natti, was ist los? Ich bin hier an der Charité. Wer nicht da ist, bist du. Und dein Vater. Wo ist er denn? Und wo bist du? Was ist ihm passiert?«
»Ich habe gerade mit ihm telefoniert«, sagte Natascha mit brüchiger Stimme. »Es geht ihm gut.«
»Na, Gott sei Dank. Was ist denn überhaupt los? Soll ich woanders hinkommen?«
»Nein, Henrik, danke. Du bist ein Schatz. Nicht nötig. Danke, dass du zur Charité gekommen bist. Ich … ich kann jetzt nicht reden. Sei mir nicht böse. Ich muss dir das nachher erklären. Sehen wir uns zu Hause?«
»Wäre schön. Ich werde jedenfalls da sein.«
»Ich auch. Danke. Ich liebe dich.« Sie legte auf. Vor ihr auf dem Bildschirm flackerte die Nachricht:
Von: Die Pupille
An:
[email protected] Betreff:
Text: BEIM NÄCHSTEN MAL IST ES KEIN FALSCHER ALARM, PR INZESSIN.
Erschöpft ließ sie sich auf den Drehstuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Das war zu viel. Alles war ihr zu viel. Sie war nicht geschaffen für diesen Job. Irgendein Schwein wusste das und wollte ihr das Leben zur Hölle machen. Und, verdammt noch mal, es gelang ihm. Sie atmete mehrmals tief durch und rieb sich die Wangen. Sie versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Was war geschehen? Nichts. Bei genauer Betrachtung war nichts geschehen. Niemandem war ein Schaden zugefügt worden. Ihr Vater hatte gerade beim Abendbrot gesessen und Nachrichten geschaut, als sie ihn angerufen hatte. Sie selbst hatte ein wenig Zeit für eine unnötige Fahrt ins Krankenhaus vergeudet. Immerhin: besser, als wenn es eine nötige Fahrt gewesen wäre.