Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Arbeitsplatz ihrer Mitarbeiterin. Ein Foto von einer Katze in einem silbernen Rahmen, ein paar Ansichtskarten, die ihr jemand aus dem Urlaub geschickt hatte. Malta. Florida. Thailand. Sie sah sich die Absender an, überflog die Texte. Belangloses von Kolleginnen. Ulrike. Heike. Claudia und Hülya. Kein Hinweis auf irgendeinen Mann in Jana Berlings Leben. Keiner auf Kinder. Was machte so eine Frau, wenn sie das Büro verließ? Nach Hause gehen zu den Katzen? Ins Fitnessstudio? In die Kneipe? Unauffällig, als beginge sie etwas Verbotenes, zog Natascha eine Schublade des Schreibtisches auf. Doch auch hier: Nichts, was für ein Leben gestanden hätte. Stifte, Büroklammern, ein Lineal, zwei Blocks, ein paar Haargummis, ein Lippenstift. Pfefferminzdragees.
Nebenan klingelte das Telefon. Natascha schob das Fach wieder zu und ging hinüber in ihr Büro. »Eusterbeck?«
»Frau Eusterbeck?« Eine männliche Stimme, die sie nicht kannte.
»Ja?«
»Professor Knauer, Charité. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Vater …« Er zögerte. Natascha befiel ein plötzliches Schwindelgefühl, sie hielt sich am Fensterrahmen fest, starrte hinaus in den aufziehenden Nebel. Die Straßenbeleuchtung flackerte auf. »Dass mein Vater was?«, presste sie hervor.
»Er hatte einen Unfall. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich am Telefon nicht mehr dazu sagen möchte. Aber es wäre gut, Sie kämen vorbei.« Er machte eine kurze Pause. »Möglichst bald.« Dann legte er auf.
Natascha Eusterbeck spürte, wie ihre Beine nachgaben. Ein Unfall. In Berlin? Warum war ihr Vater in der Charité? Was hatte er hier zu tun gehabt? Weshalb hatte er sich nicht bei ihr gemeldet? Hastig stopfte sie ein paar Unterlagen in ihre Tasche, drückte auf die Haustaste, dankbar, dass sie am Morgen ihr Dienstfahrzeug bekommen hatte, keuchte: »Meinen Wagen bitte. Gleich.« Wenige Augenblicke später war sie auf dem Weg in die Tiefgarage, während sie versuchte, am Handy die Charité zu erreichen – erfolglos. Der Empfang im Aufzug war schlecht, der in der Tiefgarage noch schlechter. Bleicher, ihr Chauffeur, fuhr gerade vor. Sie winkte ihm sitzen zu bleiben, riss die Tür auf und warf sich auf den Rücksitz. »Bitte bringen Sie mich so schnell wie möglich zur Charité.«
Bleicher wusste, wie man schnell durch den Berliner Verkehr kam. Er verschwendete keine Grünphase, keinen Seitenstreifen, keine Lücke zwischen den anderen Fahrzeugen. Mit der Eleganz eines mit allen Wassern gewaschenen Profis schoss er durch den Abend. Doch Natascha hatte dafür keinen Blick. Sie tippte mit zitternden Fingern eine Nachricht an Henrik in ihr Handy: »Papa in der Charité. Unfall. Komm bitte auch hin. N.«
Bleicher warf ihr im Rückspiegel einen Blick zu. »Wissen Sie, wo in der Charité Sie hinmüssen? Ich frage wegen der Anfahrt. Sie sparen sich Zeit, wenn wir gleich den richtigen Weg nehmen.«
»Ja, natürlich, Herr Bleicher, Sie haben recht. Ich muss zu einem Professor Knauer.«
»Ich rufe mal in der Charité an«, sagte Bleicher, tippte, während er den Wagen mit unvermindertem Tempo durch die dichten Straßen manövrierte, eine Nummer in das Autotelefon ein und sprach dann, knapp und präzise, wie er es als Logistiker gelernt hatte: »Hier der Wagen von Staatssekretärin Eusterbeck, Bundeskanzleramt. Auf dem Weg zur Charité. Kommen über die Reinhardtstraße, müssen zu Professor Knauer. Bitte um die schnellste Anfahrt.«
»Wie heißt der Professor noch mal?«
»Knauer.«
»Welche Station soll das sein?«
Bleicher wandte sich zu Natascha um, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Welche Station, Frau Staatssekretärin?«
»Ich weiß nicht. Es geht um einen Unfall.«
»Notaufnahme«, sagte Bleicher und lauschte.
»Fahren Sie über …« Natascha hörte nicht mehr zu, sondern kämpfte mit den Tränen. Für solche Ereignisse waren einfach keine Kräfte mehr übrig. Alles, was sie zu geben hatte, steckte in ihrem Job. Mehr als alles, was sie zu geben hatte.
»Sicher, dass der Professor Knauer hieß?«, fragte Bleicher, als die Leitung wieder unterbrochen war.
Natascha schüttelte den Kopf. »Vielleicht habe ich es falsch verstanden. Ich war zu überrascht. Ich kann noch mal im Krankenhaus anrufen und nachfragen …«
»Lassen Sie mal, Frau Staatssekretärin, wir sind in zwei Minuten da, das lohnt nicht.«
Tatsächlich standen sie wenige Augenblicke später in der Auffahrt zur Klinik. Bleicher ließ die Scheibe runter und hatte im selben
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