Kalte Macht: Thriller (German Edition)
offensichtlich das Temperament mit Henrik durchgegangen: Dieser Eintrag war allzu eindeutig mit heißem Blut geschrieben worden.
Es folgte noch ein halbseitiges Register mit speziellen Verbindungen, Zugehörigkeiten, Nebenämtern und interessanten Kontakten. Es war praktisch alles vertreten, was auch nur entfernt politische Bedeutung im Lande hatte. Rau war eben ein Elefant, auch wenn er kein bisschen danach aussah.
Auch zu Dr. Marcus Frey, zum gegenwärtigen Oppositionsführer, zum Fraktionschef und zu dem Journalisten Carl Haussmann hatte Henrik ihr Informationen besorgt. Letztere drei, weil sie interessanterweise Stipendiaten der WilfriedBölcke-Stiftung waren. Offenbar eine Kaderschmiede erster Güte. Aber dazu waren parteinahe Stiftungen ja da. Sogar der amtierende Bundespräsident entstammte diesem Stall. Die Stiftung war offenbar eine Seilschaft mit direktem Zugang diverser Interessenvertreter zu den Entscheidern der nächsten Generation. Natascha war einigermaßen schockiert, wie sehr das System ineinander verstrickt war. Nicht nur, dass sich Seilschaften kreuz und quer durch die politische Landschaft zogen, auch frühe Abhängigkeiten und spätere Gefälligkeiten wurden sauber und hocheffizient konstruiert. Als säße irgendwo ein perfider Gott der Macht, der an langen Fäden die Geschicke der Politik zog. Da wurde ein junges Talent entdeckt, unterstützt, in die richtigen Bahnen gelenkt, bis der Sponsor eines Tages in ihm den passenden Zugang zu wichtigen Entscheidungen erhielt. Man förderte die gegenseitigen Interessen, bis es an einem Punkt nicht mehr konstruktiv voranging. Und dann wird der inzwischen arrivierte Politiker kastriert und gefüttert, indem man ihn von der Macht abzieht und ihm einen Posten als Repräsentant oder gut bezahlten Beamten verschafft, als Vorsitzender einer Stiftung, Richter an einem Bundesgericht oder Staatsorgan. Und der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat, darf sich zumindest im Glanze seines neuen, wenn auch unbedeutenden Amtes sonnen. Es gab schlimmere Schicksale.
Als letzter Eintrag lag eine kurze Notiz zu Gerhard Jäger in der Mappe. Natascha schüttelte den Kopf. Der Sicherheitschef des Kanzleramts … Aber Henry hatte ja recht: Natürlich, wenn es darum ging, die Querverbindungen und die heimlichen Verstrebungen in der Behörde zu durchleuchten, durfte man nicht nur die Theoretiker unter die Lupe nehmen, sondern musste auch die Praktiker berücksichtigen. Gleichwohl war der Eintrag kein besonders überraschender oder erhellender. Es war, was man erwarten durfte:
Gerhard Jäger
geb. 30.06.1960 in Hannover. Polizeiausbildung in Kiel. Spezialeinheit GSG 9. Wechsel zum LKA Hessen, später zum hessischen Verfassungsschutz. Von 1990 bis 2001 in der Privatwirtschaft tätig, u.a. im Auftrag amerikanischer Versicherungsgesellschaften. Danach Security Service der US -amerikanischen Botschaft in Berlin. Seit 2004 für das Bundeskanzleramt als Sicherheitschef tätig. Nicht verheiratet, keine Kinder.
Natascha klappte die Mappe zu und sah aus dem Fenster. Irgendwo da unten lag Braunschweig. Wenn ihr Vater hochblickte, konnte er womöglich gerade ihr Flugzeug sehen. Die Lämpchen blinkten auf, und der Gong ertönte. Sie gingen in den Sinkflug über. In einer halben bis drei viertel Stunde würde sie wieder in den dichten Stadtverkehr eintauchen. Bleicher wartete vermutlich schon am Flughafen, sie hatten ja etwas Verspätung. Dann ein paar Stunden Arbeit im Amt, danach war sie mit Henrik zum Abendessen verabredet. Und sie freute sich. Die anderen waren fast alle noch nach London mitgeflogen – und sie würde heute Abend ausnahmsweise ganz vergessen, dass sie Politikerin war. Sie steckte ihre Unterlagen weg, schnallte sich an und lehnte sich zurück. Wenn sie sich so auf den Flug konzentrierte, war ihr immer etwas bange. Sie mochte die Enge in den Kabinen nicht, litt unter dem Gefühl, eingesperrt zu sein. Doch die Müdigkeit war so überwältigend, dass sie dennoch nach wenigen Augenblicken eingeschlafen war. Und dann vibrierten auch schon die Tragflächen unter dem Widerstand der schweren Wolken, in die die Maschine hineinschoss.
*
Natürlich war sie zu spät. Henry hatte sich schon das zweite Glas Weißwein bestellt, als sie endlich den Tag abstreifte und den wohligen Trüffelgeruch einsog, der die Gäste des Gianni’s gleich am Eingang empfing. Sie sah Henrik am anderen Ende des Lokals. In der Fensterscheibe konnte sie noch die Rückleuchten des in die Nacht
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