Kalte Macht: Thriller (German Edition)
entschwindenden Dienstwagens sich spiegeln sehen. Und im Hintergrund lief Paolo Conte und erzählte mit seiner seltsam verwaschenen Stimme von anderen Lebensentwürfen. Henrik stand auf und kam ihr entgegen. »Ich dachte schon fast nicht mehr, dass du kommst.«
»Lass uns einfach so tun, als wäre das ein Trick von mir gewesen, um interessanter zu wirken«, sagte sie, während sie sich von ihm aus dem Mantel helfen ließ.
»Interessanter als du kann man gar nicht sein.« Oh ja, er hatte Charme. Und er wusste immer noch, wie er sie geschmeidig bekam. Sie ließ sich von ihm zu seinem Tisch führen. Der Ober war augenblicklich bei ihnen und fragte Natascha, ob sie auch einen Aperitif wolle. Sie bestellte einen Prosecco und warf einen Blick in die Runde. Niemand da, den sie kannte. Sie lächelte Henrik an. »Bist du schon lange hier?«
»Ich war nur pünktlich.«
»Sag das nicht so. Du machst mir ein schlechtes Gewissen.«
»Nichts mache ich lieber als das«, sagte Henrik und sah sie herausfordernd an. »Fast nichts.«
»Fast nichts?«
»Im Einzelnen sollten wir das besprechen, wenn wir zu Hause sind.«
Der Ober kam und reichte Natascha ihr Glas Prosecco. »Dann hoffe ich, dass du mir das später haarklein erklärst.« Sie hob ihr Glas, und Henrik tat es ihr gleich. »Auf einen wundervollen Abend.«
»Auf einen wundervollen Abend mit einer wundervollen Frau.«
Die Kerze flackerte, Paolo Conte sang »Via con me«, und Natascha Eusterbeck hatte plötzlich den Eindruck, als weiche Henrik ihrem Blick aus. Sie stellte ihr Glas ab und forschte in seinem Gesicht nach etwas, wovon sie nicht wusste, was es war. »Alles in Ordnung?«, fragte sie schließlich.
»Alles bestens, Schatz. Wie war Paris?«
»Paris? Oh, Paris. Es ist ja immer das Gleiche: Du kommst aus der Maschine, der Wagen wartet schon, bringt dich direkt ins Hotel, unterwegs schaust du noch mal in die Akten. Dann schnell duschen, umziehen, die Unterlagen sortieren, der Wagen wartet schon, bringt dich zur Konferenz, die Security schleust dich rein, dirigiert dich in die zweite Reihe, einer von der Organisation erklärt dir die Abläufe. Dann heißt es, mindestens acht Stunden nicht mehr auf die Toilette zu gehen, endlich ist der Spaß zu Ende, unten wartet schon der Wagen, bringt dich ins Hotel, noch schnell eine Mütze Schlaf tanken und dann auschecken, der Wagen wartet schon, bringt dich zum Flughafen, du wunderst dich, dass so schönes Wetter ist, das war dir gestern gar nicht aufgefallen, am Flughafen Quick-Check-in, das Servicepersonal und der Fahrer kümmern sich ums Gepäck, die Maschine steht schon da, na ja – das war diesmal nicht so … Ich hatte noch ein bisschen Zeit.« Sie lächelte und griff nach ihrer Handtasche, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte. »Da konnte ich noch was für dich besorgen.« Sie nahm die Krawatte und das Aftershave aus der Tasche, beides hatte sie sich im Duty-free-Shop noch rasch als Geschenk einpacken lassen, und schob es ihm über den Tisch.
Überrascht und offensichtlich ein bisschen gerührt wog Henrik seine Geschenke in der Hand. »Hab ich Geburtstag und hab’s vergessen?«
Natascha schüttelte den Kopf.
»Unser Hochzeitstag ist im Mai, richtig?«
Sie legte eine Hand auf die seine. »Das sind gerade nicht so leichte Zeiten für uns«, sagte sie leise und versuchte, ihrer Stimme so viel Wärme zu verleihen wie möglich. »Für dich.«
»Also doch keine kleine zärtliche Aufmerksamkeit, sondern eher so etwas wie Schmerzensgeld?« Er legte die Geschenke auf den Tisch.
»Magst du sie nicht aufmachen?« Sie würde den Vorwurf, der in dieser nur scheinbar humorigen Frage lag, ignorieren und sich den schönen Abend nicht verderben lassen.
»Was ist drin? Eine Krawatte?«
Dass er den Nagel so exakt auf den Kopf getroffen hatte, war wie ein Schlag ins Gesicht. Natascha spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. »Du musst es nicht aufmachen«, sagte sie mit rauer Stimme. Sie schluckte. Er sah zu Boden. »Entschuldige«, flüsterte er, da er sich sogleich bewusst war, dass er dem Abend jede Möglichkeit genommen hatte, sich noch zum Guten zu wenden. Er hatte den Zauber zerstört. Warum hatte er nicht einfach das Geschenk öffnen und sich freuen können. Darüber, dass sie in Paris an ihn gedacht hatte. Darüber, dass sie vermutlich eine schöne Krawatte für ihn ausgesucht hatte. Darüber, dass sie die paar Minuten, die sie Zeit gefunden hatte auf dieser Reise, ihm gewidmet hatte. »Darf ich es
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