Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Büro kam, war es nach elf Uhr am Abend. Sie nahm ihren Mantel aus der Garderobe, packte einige Unterlagen zu ihrem Laptop in die Tasche und warf noch einen letzten Blick auf die Mails. Zuerst fiel ihr die Nachricht gar nicht auf, weil als Absender diesmal David Berg vermerkt war. Doch als sie auf die Sendezeit sah, stellten sich ihre Nackenhaare auf: 22:38 Uhr. Da hatten sie zusammen im Casino gesessen. Und er hatte kein einziges Mal zum Handy gegriffen. Er konnte die Nachricht unmöglich geschrieben haben. Mit zitternden Fingern klickte sie auf »Öffnen« und las:
Von: David Berg
An: Natascha Eusterbeck
Betreff: Hi
Nachricht: ICH DENKE AN DICH.
David Berg. Warum David Berg? Sie war verwirrt, spürte Panik in sich aufsteigen. Was wollte diese Ratte, die sich nun auch noch Davids Identität bediente? Sie versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Das Zittern wollte nicht aufhören. Trotzdem schaffte sie es irgendwie, die Nachricht zu löschen. Den Computer runterzufahren vermochte sie nicht mehr. Sie zog den Mantel fester um sich und verließ fluchtartig das Büro. Lief durch die Hauptpforte hinaus in die Dunkelheit. Der Wind kühlte ihre Tränen zu eisigen Streifen. Erst jetzt merkte sie, dass sie hemmungslos heulte. Wohin sie lief, war ihr gar nicht klar. Nur weg. Hauptsache weg. Weg von alledem. Als sie schon an den Schiffbauerdamm kam, stieß sie beinahe mit einem einsamen Spaziergänger zusammen, der mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf vor ihr her ging. Sie stammelte eine Entschuldigung, hastete weiter. Bis sie – schon etwas weiter entfernt – eine Stimme hörte. »Natascha?« Und noch einmal: »Natascha?« Da blieb sie stehen, nur einfach stehen. Sie lief nicht mehr, drehte sich auch nicht um, sondern stand einfach da, mitten auf dem Gehweg mitten in der Nacht mitten in Berlin, mitten im einsetzenden Winter, wo Grau und Schwarz ineinander übergingen.
Und dann stand plötzlich David Berg bei ihr, nahm sie in den Arm und hielt sie ganz fest. Und es tat so gut, ihn zu spüren. »Danke«, flüsterte sie. »Danke, dass du da bist.«
*
David Bergs Wohnung am Prenzlauer Berg war schlicht und geschmackvoll eingerichtet. Durchaus gemütlich. Gemütlicher, als es Männerwohnungen meist waren. Aber das nahm Natascha Eusterbeck kaum wahr, als sie sich von ihm über die Schwelle und ins Wohnzimmer schieben ließ. Er drückte sie mit sanfter Gewalt aufs Sofa und nahm ihr die Tasche ab, die er behutsam neben die Tür zum Flur stellte. »Ich mache uns erst einmal was zu trinken«, sagte er und verschwand hinter dem Küchentresen, der das Wohnzimmer von einer Kochzeile abtrennte. »Zieh dir die Schuhe aus, und mach es dir bequem. Irgendwo müsste ich auch eine Decke haben. Moment …« Er angelte nach einem der Töpfe, die dekorativ von der Decke hingen, fuhr mit dem Finger hinein, um zu prüfen, ob sich Staub gesammelt hatte, schien zufrieden, drehte sich um und setzte den Topf auf den Herd. Dann holte er etwas aus dem Kühlschrank und goss es in den Topf. Natascha saß benommen auf dem Sofa und wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Dankbar nahm sie zur Kenntnis, dass er sie ebenfalls duzte, nachdem sie ihn draußen auf der Straße unvermittelt mit »du« angesprochen hatte. Er wandte ihr den Rücken zu. Jackett und Mantel hatte er an der Garderobe gelassen. Er trug ein tailliertes weißes Hemd. Die Krawatte hatte er schon im Casino nicht mehr umgehabt. Die Vorhänge waren zugezogen, vielleicht machte er sie nie auf. Ging morgens so früh aus dem Haus, dass es noch dunkel war, und kam abends im Dunkeln nach Hause. Kein Grund, jemals nach draußen zu schauen. Die Wohnung hätte auch in Köpenick gelegen sein können. Für die halbe Miete. Natascha schüttelte den Kopf darüber, was ihr für Gedanken kamen. Verdrängung, dachte sie. Eben war sie noch völlig fertig gewesen. Jetzt dachte sie über Vorhänge nach.
David kam und reichte ihr eine große Frühstückstasse. »Hier.«
»Kakao?« Sie sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Dankbarkeit an.
»Heiße Schokolade«, korrigierte er. »Selbst gemacht, mit frischer Milch. Das wird dir guttun. Und mir auch. Mache ich mir immer, wenn ich Angst habe, dass mich der Wahnsinn frisst. Ist die beste Nervennahrung.«
Natascha nickte. »Danke. Danke, David. Du bist der Beste.«
Er sah sie mit diesem leicht spöttischen Gesichtsausdruck an, von dem Natascha inzwischen wusste, dass es ein Anzeichen von Unsicherheit war. Eine Weile schwiegen sie. Dann
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