Kalte Schulter, Heißes Herz
wollte hier bei ihm sein, mit Leib und Seele, und sich von ihm auf eine Reise entführen lassen, die sie alles Schlechte vorübergehend ignorieren ließ.
Licht und Wärme durchströmten sie und brachten ihre Augen zum Leuchten. Die Entscheidung war gefallen, nun konnte sie das Date in vollen Zügen genießen. Alles fühlte sich plötzlich intensiver und aufregender an, als hätte sie gerade zum ersten Mal tief durchgeatmet. Sie war … glücklich.
Für Leon, der die Veränderung in Flavia beobachten konnte, gab es momentan nur ein Gefühl: Triumph. Endlich hatte sie ihre Lust auf ihn zugelassen und akzeptiert, das konnte er deutlich in ihren Augen ablesen. Und er war aufrichtig erleichtert, dass sie einen Schritt weiterkamen. Flavia schenkte ihm ein wenig Vertrauen, und dieses Vertrauen wollte er nicht enttäuschen. Er würde mit ihr nur so weit gehen, wie sie es wollte.
Etwas bewegte sich in ihm, und er stellte erstaunt fest, dass es Dankbarkeit war. Ja, er war dankbar dafür, dass dieses scheue Reh einen ersten Schritt auf ihn zugemacht hatte. Leon würde sie keinesfalls verletzen oder enttäuschen. Er wollte ihrer wert sein und sie ebenso wertschätzen. Und das verlangte nach einer behutsamen Vorgehensweise.
Wenn er es zu schnell anging, verschreckte das Flavia nur. Genau wie bei ihrem ersten Kuss. Und dann versteckte sie sich wieder hinter der eisigen Fassade, die sie so häufig aufsetzte, wenn sie mit ihm sprach.
Fieberhaft überlegte er, worüber sie sprechen konnten, ohne verfängliches Terrain zu betreten. Er wollte Flavia aus ihrem Schneckenhaus locken, aber ganz langsam und vorsichtig. Außerdem würde er gern mehr über sie erfahren, und zwar von ihr persönlich. Leon wusste praktisch nichts von ihr, nicht einmal, wo genau sie wohnte. Aber das machte nichts. Stück für Stück würden sie einander näherkommen, über ihr jeweiliges Leben sprechen und irgendwann keine Geheimnisse mehr voreinander haben.
Gestern hatte Leon sich Flavia gegenüber schon geöffnet, indem er von seinen Projekten in Südamerika und von seiner Kindheit und Jugend in Armut erzählte. Darüber sprach er ansonsten nicht gern in der Öffentlichkeit, höchstens mit sehr engen Freunden. Aber die waren in seiner Geschäftswelt dünn gesät, weil man sich durch eine zweifelhafte Vergangenheit zu leicht verunsichern ließ, wenn man selbst in wohlhabende Verhältnisse hineingeboren worden war. Diese bittere Erfahrung hatte Leon gelehrt, seine Privatangelegenheiten weitgehend für sich zu behalten.
Aber Flavia hatte aufrichtig positiv reagiert, als sie von Leons Herkunft und Karriere erfuhr. Ihr Mitgefühl hatte ihm gezeigt, dass sie keine oberflächliche Prinzessin war, die sich auf dem Geld ihres Vaters ausruhte. Zudem hatte sie nicht viel mit ihrem alten Herrn gemeinsam, den Leon für einen herablassenden, charakterlosen Egomanen hielt. Seine Tochter war sichtlich aus anderem Holz geschnitzt, diesbezüglich traute Leon seinen Instinkten voll und ganz.
Zum Glück nahm Flavia ihm die Aufgabe ab, ein neutrales Gesprächsthema anzuschneiden. „Gestern hast du von den Projekten gesprochen, die du in der Dritten Welt unterstützt“, begann sie. „Welche Vorhaben oder Konzepte sind dabei besonders zukunftsorientiert?“
Ihr Interesse war nicht vorgespielt. Aber sie hatte bewusst etwas angesprochen, das Leon dazu zwang, den Großteil der Unterhaltung allein zu führen. Ihre Gedanken befanden sich im freien Fall, und sie brauchte Zeit, um sich zu sammeln. Solange Leon von seinen Unternehmungen berichtete, konnte Flavia ihm folgen und sich dabei mit der Entscheidung anfreunden, die sie gerade getroffen hatte.
Es war reiner Genuss, einfach nur dazusitzen und diesem beeindruckenden Mann zuzuhören. Sein Minenspiel zu betrachten, wenn er redete, und das Funkeln in seinen Augen. Die winzigen Fältchen an seinen Unterlidern, die sich vertieften, wann immer er lächelte. Jede Bewegung seines muskulösen Körpers war kraftvoll, selbst wenn Leon sich nur auf seinem Stuhl vorbeugte. Flavia guckte sich an seinem dichten schwarzen Haar fest und zählte jede einzelne Strähne.
Eine schwere Last war ihr von den Schultern genommen, seit sie beschlossen hatte, ihrem eigenen Glück doch eine Chance zu geben. Schlussendlich fühlte sie sich von den niederträchtigen Machenschaften ihres Vaters wenigstens für den Moment befreit.
Was sie auch mit Leon hier an diesem unbeschreiblichen Ort zusammengebracht hatte … sie selbst wollte nirgendwo anders
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