Kalte Spur
damit die Falken vom Himmel geschossen kommen und töten konnten, was vor Angst ins Offene geflohen war. Nate hatte ihr gesagt, man kriege die Beute, die man aufgescheucht habe, oft erst zu sehen, wenn der Falke sein Opfer im Sturzflug geschlagen habe.
»So sind die Menschen erst darauf gekommen, aus der Luft anzugreifen«, hatte er erklärt.
»Was redest du da?«
»Feuer, das vom Himmel fällt. So hat alles begonnen!«
»Häh?«
Der Unterricht fand nach der Schule statt, sofern sie nicht Basketball oder Chor hatte und Nate nicht unterwegs war. Mom oder Dad fuhren sie zu Romanowskis Hütte am Fluss und Nate brachte sie hinterher nach Hause und blieb oft zum Abendessen. Ihre Eltern schienen ein besonderes Verhältnis zu ihm zu haben, obwohl sie eigentlich nie mit ihr darüber sprachen. Sie vertrauten ihm jedenfalls, sonst hätten sie dem Unterricht nicht zugestimmt. Schließlich war Nate ledig und alleinstehend, und Sheridan war zwölf. Sie wusste, dass er irgendwie anders war und sehr ernst. Er ähnelte niemandem, dem sie je begegnet war, und sicher nicht den Leuten, mit denen ihre Eltern privat zu tun hatten wie den Logues.
Einerseits schien ihr Dad sich in seiner Gesellschaft seltsam wohlzufühlen, als teilten sie eine lange zurückliegende Erfahrung, doch zugleich musterte er ihn kühl, wenn er glaubte, niemand sehe hin. Es war, als versuchte er, eine Art Rätsel zu lösen. Ihre Mutter andererseits kochte freitags stets etwas Besonderes und servierte dazu auch Salat und Nachtisch. Anfangs hatte das keine große Bedeutung gehabt; inzwischen aber beanspruchte das neue Büro sie so, dass reguläre Abendessen, bei denen alle am Tisch saßen, seltener geworden waren. Wenn Nate dabei war, bemerkte Sheridan an ihrer Mutter mitunter einen speziellen Gesichtsausdruck, den sie nur selten an ihr sah – eine Art Glühen, wie sie es manchmal hatte, wenn sie mit ihrem Mann abends zum Essen oder ins Kino ging. Dieser Anblick erinnerte sie daran, wie attraktiv ihre Mutter für gewisse Männer war. Auch wenn
dieses Glühen nur kurz anhielt, bereitete es Sheridan Unbehagen und sie erlag oft genug der Versuchung, die Aufmerksamkeit mit aller Macht auf etwas anderes zu lenken. Sie wusste, dass sie sich dann am Tisch bisweilen wie ein Gör benahm und an Lucy herumnörgelte oder Nachschlag von etwas wollte, von dem es nichts mehr gab, doch all dies nur, um die Augen der anderen auf sich zu lenken. Trotzdem sah ihre Mom Nate auf spezielle Weise an. Vielleicht verhielt ihr Dad sich deshalb so anders, wenn er in der Nähe war. Sheridan war sich klar darüber, dass irgendwas Erwachsenes vor sich ging, doch sie wusste nicht recht, was. Sie wollte jedoch auch nicht danach fragen oder etwas sagen. Sie wollte ihren Eltern keinen Grund geben, die Schicklichkeit der Falknerstunden in Zweifel zu ziehen.
Nicht dass diese Stunden bisher etwas Besonderes gewesen wären! In den ersten Monaten schien sie bloß die Stallungen der Vögel zu säubern und bei der Fütterung zu helfen. Zu sehen, wie Nate frisch getötete Kaninchen und Tauben zerlegte, um sie den Falken zu geben, löste beinahe Übelkeit in ihr aus. Es faszinierte sie, wie die Raubvögel fraßen (sie verschlangen nicht nur das Fleisch, sondern auch Fell, Federn und Knochen), doch sie fragte sich, wann sie endlich falknern würde. Nate hatte ihr die Werkzeuge dieser Tätigkeit gezeigt: lederne Kapuzen; Riemen, die an den Krallen befestigt waren, sodass er die Vögel auf der Hand halten konnte, ohne dass sie wegflogen; Köder aus Entenflügeln oder Leder, die an einer Schnur im Kreis geschleudert wurden, um das Interesse der Vögel zu erregen. Er hatte ihr alte Bücher gegeben, um über dieses ehrwürdige Handwerk zu lesen – Texte, die überwiegend von lang verstorbenen Schotten stammten. In einigen Bänden waren Schwarz-Weiß-Fotos gewesen. Was Sheridan daran allerdings in Bann zog, war, dass auf den alten Aufnahmen
nur die Vögel authentisch und echt wirkten; die Falkner dagegen stammten aus einer anderen Zeit. Die Männer (bisher hatte sie noch kein Foto einer Falknerin gesehen) trugen lächerliche, schmalkrempige Hüte und ausgebeulte, knielange Hosen. Sie rauchten riesige, herabhängende Pfeifen, über die Sheridan am liebsten laut gelacht hätte. Diese Gestalten erinnerten sie an Sherlock Holmes, nur dass sie dicker waren. Zum Glück sah Nate ganz anders aus.
Sie hielt pflichtbewusst still, wie Nate es ihr befohlen hatte, und wartete darauf, dass er – wie
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