Kalte Spur
angekündigt – aus dem Wald gegenüber trat. Er hatte gesagt, er werde auftauchen, wenn er die Vögel erfolgreich freigelassen hatte und sie in der richtigen Höhe waren.
Sechs Tage waren seit Entdeckung der verstümmelten Rinder auf der Hawkins Ranch vergangen, und Sheridan merkte, wie etwas, das nur ihre Familie beschäftigt hatte – der tote Elch auf der Wiese –, nicht nur in der Stadt, sondern auch in der Schule zum Gesprächsthema geworden war. Mr. Morris, ihr Lehrer in der sechsten Klasse, hatte sie sogar gebeten, nach dem Unterricht an ihrem Platz zu bleiben, damit er sie befragen konnte. Da sie befürchtet hatte, er wolle wegen einer Hausarbeit in Geschichte mit ihr sprechen, die sie praktisch aus dem Internet kopiert hatte, war sie erleichtert, dass er sich nur für den Elch und die Kühe interessierte.
Sheridan fand es cool, dass ihre Lehrer sie danach fragten. Sie hatte Mr. Morris von der Entdeckung des Elchs und dessen Zustand berichtet. Als er nach den Kühen gefragt hatte, hatte sie sich geziert und so getan, als wüsste sie mehr als sie erzählte, auch wenn dem nicht so war. Sie wünschte, sie hätte ihren Eltern aufmerksamer zugehört, als diese sich beim
Abendessen darüber unterhalten hatten, doch davon ließ sie sich vor Mr. Morris nichts anmerken.
Ein lautes Knacken lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bäume ringsum. Nate Romanowski trat aus dem dichten Wald auf der anderen Seite der Lichtung. Seine fließenden Bewegungen hatten etwas Katzenhaftes, als wäre er stets darauf eingestellt, sich sofort auf etwas oder jemanden zu stürzen. Er war groß und breitschultrig und trug einen langen blonden Pferdeschwanz. Seine scharfen grünen Augen zogen ihren Blick an. Sie fand sein durchdringendes Starren oft befremdlich und konnte manchmal nicht anders, als ihm auszuweichen, auch wenn sie inzwischen wusste, dass es nichts zu bedeuten hatte. Dass er einfach so war.
Aus irgendeinem Grund schüttelte er langsam den Kopf.
»Soll ich gehen?«, fragte sie. Ob sie einen Fehler gemacht hatte?
»Nein.«
Er richtete das Gesicht zum Himmel, und sie folgte seinem Blick. Die eben noch fernen schwarzen Flecken wurden immer deutlicher: Die beiden Wanderfalken, die er freigelassen hatte, kehrten im Sturzflug zur Erde zurück.
»Warum kommen sie runter?«
Nate zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«
»Hab ich was falsch gemacht?«
Er sah sie über die Lichtung hinweg an und senkte beruhigend die Stimme. »Aber nein. Du warst prima.«
»Warum kommen sie dann runter?«
Er trat einen weiteren Schritt auf die Lichtung.
»Das hab ich noch nie erlebt«, sagte er.
»Wirklich nicht?«
»Sie sind schon mal verschwunden, wenn sie auf einer anderen Lichtung ein Kaninchen oder so entdeckt haben, und ich hatte auch schon Vögel, die nicht mehr zurückgekommen sind. Aber dass Wanderfalken die Jagd einfach abbrechen, ist mir neu.«
Die Tiere schossen mit angelegten Flügeln und geballten Krallen herab, als wollten sie ein Opfer schlagen, breiteten auf Höhe der Baumkronen aber die Schwingen aus. Sie hörte, wie ihre Flügel Luft fingen, wodurch die Vögel abrupt langsamer wurden. Sekunden später landeten sie mit im letzten Moment eingezogenen Flügeln und gestreckten Beinen im hohen Gras. Sheridan sah zu, wie Nate sich ihnen näherte. Doch auch als er sich bückte und seinen dicken, ledernen Schweißerhandschuh senkte, blieben sie im Gras in Deckung.
»Das ist nicht normal«, sagte Nate.
»Warum kommen sie nicht auf deine Faust?«
»Keine Ahnung. Scheint, als hätten sie Angst, sich zu zeigen.«
Sheridan kam langsam über die Lichtung auf die Tiere zu.
»Spürst du’s?« Nate kniff die Augen zusammen. »Da liegt was in der Luft. Tiefdruck oder so.«
Sheridan blieb erneut stehen. Ihr Herz klopfte rasch. Sie hatte tatsächlich etwas wahrgenommen, konnte aber nicht beschreiben, was. Wie ein Druck, der sich vom Himmel auf sie senkte. Benebelt sah sie zu, wie Nate sich bückte und sich einen der Wanderfalken buchstäblich auf die Faust setzte. Normalerweise konnten sie nicht erwarten, ihm auf die Hand zu hüpfen. Doch kaum erhob er sich mit dem Tier, da ließ es sich fallen. Nate hatte die Lederriemen, die an die Krallen des Falken gebunden waren, in der Faust, und der Vogel flatterte auf und nieder, kreischte und schlug heftig mit den Flügeln. Sheridan bekam einen Luftschwall ins Gesicht.
»Mist«, fluchte Nate und setzte ihn zurück auf den Boden. »Der tut sich noch weh.«
»Sei
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