Kalte Spur
Vater und Großvater gewesen waren. Zwischen den Bäumen hinterm Haus standen Besucherhütten und die Schlafbaracke, in der einst ein Dutzend Cowboys gelebt hatte.
Joes Magen zog sich zusammen, als er Missy Vankueren die Fliegengittertür aufstoßen und aus dem Haus kommen sah. Sie winkte ihn zu sich.
Trotz der Ereignisse des Morgens war es ihr gelungen, sich zu frisieren und das edle Make-up aufzutragen, das sie wie fünfunddreißig wirken ließ, obwohl sie einundsechzig war. Ihre Augen strahlten aus der porzellanfarbenen Maske mit scharf konturierten, hohen Wangenknochen und dem vollen, roten Mund hervor. Ihre Flanellbluse war mit sich aufbäumenden Pferden bedruckt, darüber trug sie eine Wildlederweste, deren Aufschläge mit wilden Rosen aus Glasperlen besetzt waren. Schlank und elegant sah sie aus. Jeder Zoll ganz die schicke Rancherin, dachte Joe mit widerwilliger Bewunderung.
Sein Labrador sprang auf dem Beifahrersitz hoch und winselte ungeduldig. Diese Maxine, dachte Joe, mag wirklich jeden.
Er sagte ihr, sie müsse im Wagen bleiben, und stieg aus. Vor der Kühlerhaube trat Missy offensichtlich erschüttert auf ihn zu.
»Tuffs Wallach tauchte gegen drei Uhr morgens auf«, begann sie, ohne Joe zu grüßen. »Bud schaute nach draußen und sah ihn mit unterm Bauch hängendem Sattel bei den
Koppeln stehen. Er dachte sofort, Tuff müsse in den Bergen vom Pferd gestürzt sein. Also fuhr er ihn mit seinem Pick-up suchen. Zwei Stunden später kam er mit der Meldung zurück, er habe da oben Tuffs Leiche gefunden.«
Missy wies unbestimmt Richtung Berge. Die Sonne stand inzwischen so hoch, dass ein gelber Streifen auf den schneebestäubten Gipfeln lag.
»Hat Bud gesagt, die Leiche ist verstümmelt?«
Missy hielt inne, und ihre Augen weiteten sich fast grotesk. »Ja! Er sagt, es war schrecklich.«
»Und ist er jetzt dort?«
»Ja, er hat den Sheriff an den Tatort gebracht.«
Joe nickte.
»Was bedeutet das alles?«, wollte sie wissen.
Das fragte Joe sich auch. Erst ein Elch, dann Rinder, jetzt womöglich ein Mensch.
»Ich weiß nicht. Falls es stimmt, was Bud sagt, haben wir wirklich ein Problem.«
»Darum geht es mir nicht.«Missy schüttelte den Kopf. »Ich meine im Hinblick auf Bud. Wir planen unsere Hochzeit, und ich möchte, dass ihn nichts ablenkt.«
Joe sah sie an und musste sich die Frage verkneifen, ob sie wirklich Marybeths Mutter war.
Stattdessen trat er einen Schritt zurück, als wäre sie radioaktiv.
»Wie weit ist die Leiche weg?«, erkundigte er sich.
Bis auf eine Ausnahme ähnelte die Szenerie der auf der Hawkins Ranch nahezu unheimlich. Direkt unterhalb eines Espengehölzes, ehe der Hang in dichte, dunkle Kiefern überging, tauchten erneut die beiden Streifenwagen des Sheriffbüros
sowie Bud Longbrakes Ranch-Pick-up auf. Zusätzlich war diesmal ein allradgetriebener Rettungswagen des Kreiskrankenhauses vor Ort.
Als Joe sich mit dem Auto näherte, erkannte er, dass ein paar Leute in kniehohem Salbei über etwas gebeugt waren. Bud Longbrake, der einen grauen, breitkrempigen Stetson trug, sah hoch und winkte Joe. Barnum richtete sich finsteren Blicks auf. Hilfssheriff McLanahan und zwei Sanitäter bildeten den Rest der Gruppe. Einer der beiden, ein gedrungener Schlägertyp mit spärlichem gelbbraunem Bartwuchs, wirkte bleich und erschüttert. Als Joe neben Longbrakes Pick-up hielt und ausstieg, beobachtete er, wie der Kerl sich rasch umdrehte und in die Büsche spie. Der andere Sanitäter ging zu ihm und führte ihn am Arm beiseite – wohl, damit er Luft schnappen konnte.
»Joe«, sagte Longbrake.
»Bud.«
»Hat Missy Sie angerufen?«
»Ja.«
»Alles in Ordnung mit ihr?«
Joe zögerte kurz. »Bestens«, sagte er.
Barnum schnaubte und tauschte einen Blick mit McLanahan.
»Was haben wir hier?« Joe schritt durch den Salbei. Von fußballgroßen Granitbrocken abgesehen, die da und dort hervorschauten, war der Boden schwammig und weich.
Dann hielt er unvermittelt an. Obwohl er Hunderte gehäutete und ausgenommene Wildtiere gesehen hatte, war er auf das, was von Tuff Montegue übrig geblieben war, nicht gefasst. Die Leiche lag auf dem Rücken, die Beine waren gekrümmt. Ein Arm wies vom Körper weg, als hätte der Sterbende eine ausholende Geste gemacht. Für einen Moment
glaubte Joe, der zweite Arm fehle, doch dann begriff er, dass er gebrochen unter dem Rumpf lag. Tuff war ausgeweidet; seine blaugrauen Gedärme quollen aus einem etwa 30cm langen Loch im Unterleib und ließen an
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