Kalte Spur
eine Meerespflanze in einem Korallenriff denken. Seine Jeans hing auf halber Oberschenkelhöhe und entblößte Tuffs knochenweiße Haut. Die Genitalien waren abgeschnitten, sodass nur ein braunschwarzes Oval zu sehen war. Große Stücke Kleidung und Fleisch waren ihm aus den Schenkeln gerissen.
Auch das Gesicht war verschwunden, entfernt vom Kinn bis zur hohen Stirn. Nur obszön grinsende Zähne waren übrig, tischtennisballgroße Augen, ein glänzend weißer, gabelbeinartiger Vorsprung, wo einst die Nase gewesen war, viel geronnenes Blut und Muskeln. Und dieser Geruch, eine leichte, aber durchdringende Mixtur aus süß duftendem Salbei, verspritztem Blut, freiliegendem Gedärm und dem angedauten Frühstück des gedrungenen Sanitäters. Joe verspürte Brechreiz und versuchte zu schlucken.
Er wandte sich ab, schloss die Augen und bemühte sich, regelmäßig zu atmen. Hinter sich hörte er Barnum schnauben.
»Na, Probleme?«, fragte der Sheriff.
Da konnte Joe die Übelkeit nicht länger unterdrücken und erbrach seinen Morgenkaffee auf den weichen Boden.
Joe war fast den ganzen Vormittag dort, hielt sich aber im Hintergrund, als der Hang fotografiert, vermessen und mit gelbem Flatterband abgesperrt wurde, das man um eilig in den Boden getriebene Pfosten schlang. Weitere Hilfssheriffs waren aus Saddlestring gekommen, und auch ein Autobahnpolizist, der den Funkverkehr mitgehört hatte, war zu ihnen gestoßen.
Sheriff Barnum wirkte noch gestresster als sonst. Er bellte seinen Untergebenen Befehle zu und marschierte ohne erkennbares Ziel den Hang rauf und runter. Immer wieder bestieg er seinen Streifenwagen, knallte die Tür zu und hörte den Funkverkehr ab.
Bud Longbrake lehnte neben Joe am Kühlergrill seines Pick-ups. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit Silberhaar und fleischigen Ohren, die ihm nahezu rechtwinklig vom Kopf abstanden. Sein Gesicht war verwittert, die Augen durchdringend blau, die Miene unergründlich. Er trug ein gestärktes weißes Cowboyhemd und eine silberne, zehn Zentimeter große Gürtelschnalle, die an einen weit zurückliegenden Rodeosieg erinnerte. Longbrake beobachtete die Prozeduren genau, als versuchte er, die Schlüsse der Ermittler zu erraten. Dabei verzog er keine Miene.
»Eine Leiche in diesem Zustand hab ich noch nie gesehen«, sagte er nach fast einer Stunde Schweigen zu Joe.
»Ich auch nicht.«
»Von Kojoten lahmgebissene und bei lebendigem Leib ausgeweidete Kälber, ja. Oder wie ein Wolf einem Wapitikalb die Hoden abgefressen hat, während es nach der Mutter brüllte. Aber einen so zugerichteten Menschen hab ich noch nie zu Gesicht bekommen.«
Joe nickte zustimmend. Die Sanitäter versuchten, Tuff in einen Leichensack zu schieben, ohne dass sich etwas von ihm löste. Er wandte die Augen ab.
»Ich hätte nie gedacht, dass ein Bär einen Menschen so zurichten kann«, murmelte Longbrake.
Joe brauchte einen Augenblick, ehe er sich zu dem Rancher umdrehte. »Was haben Sie da gesagt?«
Longbrake zuckte die Achseln. »Dass ich von keinem Grizzly gehört habe, der solche Wunden schlägt.«
»Grizzly?«
»Hat Barnum Ihnen das nicht erzählt?«
Joe sprach weiter leise, um nicht belauscht zu werden. »Er hat mir nicht das Geringste gesagt.«
»Oh. Tja, als ich heute Morgen im Dunkeln hier hochfuhr, sah ich einen riesigen Grizzly etwas fressen. Ich hatte ihn schon von Weitem im Scheinwerferkegel. Er blickte mit einem großen Stück Fleisch im Maul auf. Und als ich ankam, fand ich Tuff.«
Joe war fassungslos. Das erklärte die grässlichen Wunden an Tuffs Schenkeln und vielleicht auch, dass er ausgeweidet worden war. Aber …
»Wie soll ein Grizzly sein Gesicht so zugerichtet haben?«, fragte Joe.
Longbrake zuckte erneut die Achseln. »Das meine ich ja. Davon hab ich nie gehört. Vielleicht hat er das Fleisch einfach abgeschält?«
Fröstelnd malte Joe sich aus, wie die sechs Zentimeter langen Zähne eines Grizzlys Menschenhaut abzogen wie eine Bananenschale, schreckte aber rasch von dieser Vorstellung zurück.
Der Rancher schüttelte den Kopf und blinzelte dann. »Die Eier von so einem Bären abgebissen zu bekommen … Armer, dummer Tuff. Er war vermutlich froh, dass der Bär ihn da nach erledigt hat.«
Joe schwieg. Was er in der kurzen Zeit, bevor ihm schlecht geworden war, von der Leiche gesehen hatte, passte nicht zu dem Szenario, das Longbrake plausibel erschien. Tuffs Gesicht war nicht von einem Bären abgenagt, es war entfernt worden. Joe dachte daran,
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