Kalte Stille - Kalte Stille
ein ganzes Bataillon Büchsenfleisch, Erbsen und Möhren, unzählige Dosen Wurst, Ravioli und Linseneintopf, an die zwanzig Suppensorten und jede Menge eingelegtes Obst.
»Kein Wunder, dass sich Alfred über Tage und Wochen im Wald aufhalten konnte. Das offizielle Haltbarkeitsdatum ist zwar längst abgelaufen, aber das muss bei Konserven nichts heißen.«
»Die halten länger, als man denkt«, pflichtete Rauh ihm bei. »Meine Mutter hat während des Krieges in der Lebensmittelausgabe gearbeitet. Fast dreißig Jahre später entdeckten wir im Keller noch zwei alte Büchsen mit Kommissbrot. Ob Sie es glauben oder nicht, es sah noch aus wie …«
Mitten im Satz hielt Rauh inne. Er riss die Augen auf und sah Jan an, als sehe er ein Gespenst. Jan wollte ihn
schon fragen, was mit ihm los sei, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Doch noch bevor Jan reagieren konnte, traf ihn ein heftiger Schlag auf den Kopf.
Sterne explodierten vor seinen Augen. Er taumelte, versuchte, seinen Sturz abzufangen, doch er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, sah er verzerrt eine hoch aufragende Gestalt hinter sich. Dann verschwamm das Bild vor seinen Augen.
Das Letzte, was er sah, waren Erbsenkonserven.
61
Als ihre Kollegin in das Stationszimmer kam, sah Rebecca Steinfurt von ihren Unterlagen auf und rieb sich die Schläfen.
»Na, was machen unsere Schützlinge?«
Schwester Edwina Sezcinsky war noch neu auf der Intensivstation. Die Fünfundzwanzigjährige, von der Rebecca noch nicht viel mehr wusste, als dass sie ihrer Arbeit mit äußerster Gewissenhaftigkeit nachkam und nach Dienstschluss für ihren ersten Marathon trainierte, nahm eine Flasche Mineralwasser vom Tisch und nickte zufrieden.
»Alles in Ordnung. Nur Frau Weller ist etwas unruhig. Ihre Pulsfrequenz ist erhöht.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Nein, sie schläft. Ich glaube, sie träumt.«
»Wird wohl an den Schmerzmitteln liegen«, sagte Rebecca und sah ihrer Kollegin zu, die sich ein Halbliterglas
mit Mineralwasser einfüllte. »Sag mal, wie viel Wasser trinkst du eigentlich am Tag?«
Edwina zuckte mit den Schultern. »So zwei bis drei Liter.«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Der reinste Durchlauferhitzer …«
Ein schrilles Alarmsignal ließ sie zusammenfahren. Sofort sahen die beiden auf die Anzeigetafel.
»Das ist bei Frau Weller!« Rebecca schnellte von ihrem Platz auf.
»Ich rufe den Doktor«, sagte Edwina, stellte ihr Glas ab und riss den Telefonhörer von der Gabel.
Rebecca eilte zu Carla Wellers Zimmer. Dem Alarm nach hatten sämtliche Vitalfunktionen der Patientin ausgesetzt, und die Schwester stellte sich innerlich schon auf eine Reanimation ein. Doch als sie die Tür zum Patientenzimmer aufriss, sah die Schwester etwas, das ihr in ihrer Berufslaufbahn noch nicht untergekommen war.
Zwar hatte sie schon häufig erlebt, dass sich Patienten die Verbindungen zu den Kontrollgeräten vom Leib rissen, aber dass sie auch die Seitenwand des Bettes herunterklappten, aufstanden und aufgebracht im Raum auf und ab liefen, das überraschte Rebecca nun doch.
»Um Himmels willen«, stieß sie hervor. »Was tun Sie denn da?«
Carla Weller schien sie gar nicht zu hören. Sie bebte am ganzen Leib. Schwester Rebecca nahm sie in die Arme und führte sie vorsichtig zurück zum Bett. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
Carla Weller murmelte etwas Unverständliches. Das starke Schmerzmittel ließ sie lallen wie eine Betrunkene.
Sie wiederholte einen einzelnen Satz immer wieder. Schließlich verstand die Schwester.
»Ich weiß jetzt, wer er ist.«
Rebecca setzte sie vorsichtig aufs Bett. »Ganz ruhig, Frau Weller. Sie haben nur geträumt.«
»Ja.« Carla nickte wie in Zeitlupe. »Und dabei hab ich ihn erkannt.«
»Wen haben Sie erkannt?«
»Nathalies Stimme. Seine Stimme.«
»Na, das ist aber schön.« Rebecca griff sich den Arm der Patientin und versuchte, den Infusionsschlauch wieder auf die Kanüle zu stecken. »Dann können Sie sich jetzt ja wieder hinle…«
»Nein!«, fuhr Carla sie an. Sie zog ihren Arm mit einem plötzlich Ruck zurück und sah die Schwester aus weit aufgerissenen Augen an. Ihr Gesicht war schweißglänzend. »Sie … verstehen nicht! Jan ist in Gefahr!«
»Was ist denn los?«, fragte eine Stimme hinter Rebecca.
Begleitet von Schwester Edwina eilte Dr. Mehra in den Raum, sah verwundert zu der Patientin und dann zu Schwester Rebecca.
»Sie ist einfach aufgestanden und …«,
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