Kalte Wut
trat eine unbehagliche Pause ein, während der niemand sprach. Jill verzehrte ihr Croissant, und erst danach beugte sich Tweed vor und wendete sich mit ruhiger Stimme an sie.
»Falls Sie über irgendwelche weiteren Informationen verfügen, sollten Sie es mir jetzt sagen. Salzburg ist zu einem gefährlichen Ort geworden. Nach allem, was wir wissen, ist es durchaus möglich, daß der Mörder mit der Maschinenpistole es auf Sie abgesehen hatte.«
»Was?« Jill schaute noch verblüffter drein, fast bestürzt. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Und ich kann mir beim besten Willen keinen Grund vorstellen, aus dem irgend jemand mich würde umbringen wollen. Ich bin nichts als eine Journalistin, die über Mode schreibt und gelegentlich einen Artikel über eine berühmte Persönlichkeit.«
»Haben Sie jemals daran gedacht, einen Artikel über Gabriel March Walvis zu schreiben?«
»Weshalb?« Jill knallte ihr Messer auf den Tisch. »Was geht hier vor? Ich habe mich auf eine angenehme Plauderei während meines Frühstücks gefreut. Und Sie werfen mir ständig irgendwelche absurden Fragen an den Kopf.«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte Tweed, seit mehreren Minuten zum erstenmal lächelnd. »Offensichtlich rede ich mit der falschen Person. Ich habe versucht, Sie zu schützen.«
»Mich vor wem zu schützen? Vor was?«
»Vielleicht vor einer in Salzburg operierenden Sektion der Tschetschenen-Mafia …«
Nach dem Verlassen des Hotels hatte Philip Newman zu der Straßenbrücke über die Salzach geführt und danach denselben Weg, den er bei der Verfolgung von Lucien eingeschlagen hatte.
Er berichtete Newman ausführlich, was passiert war. Seine Stimme war hart und die meiste Zeit völlig emotionslos, nur einmal schluckte er heftig und verstummte für ungefähr eine Minute. Newman tat so, als bemerkte er es nicht.
Der Morgen war sehr kalt, die Temperatur war über Nacht noch tiefer gesunken, und die Sonne schien hell aus einem klaren blauen Himmel. Als sie den Eingang zur Altstadt erreicht hatten, verwies Philip auf die Stelle, an der Luciens Audi gegen einen Steinpfosten geprallt war. Jemand, vermutlich die Polizei, hatte das beschädigte Fahrzeug inzwischen entfernt.
»Sie werden zwar seinen Eigentümer feststellen können«, bemerkte Newman, »aber das ist bestimmt nicht Lucien. Ich wette zehn gegen eins, daß er es kurz vor seiner Attacke auf die Konditorei gestohlen hat.«
Sie gingen aus dem Sonnenschein in die Düsternis der schmalen Gasse und wanderten in die Altstadt hinein.
»Es ist möglich – sogar wahrscheinlich –, daß Lucien sich irgendwo hier in diesem Labyrinth aus Straßen und Gassen verborgen hak«, sagte Philip. »Falls wir ihn sehen sollten, verpassen Sie ihm keinen tödlichen Schuß. Ich will ihn lebendig haben. Eine Kugel ins Bein ist mehr als ausreichend – dann übernehme ich ihn, und Sie verschwinden. Sie haben doch nichts dagegen, oder?«
Newman ergriff Philips Arm und drückte ihn kurz, bevor er antwortete.
»Ich gehöre wahrscheinlich zu den wenigen Leuten, die begreifen können, wie Ihnen zumute ist. Meine Frau wurde vor etlichen Jahren im Baltikum ermordet. Ich bin auf die Suche nach ihrem Mörder gegangen – obwohl unsere Ehe kaputt war und wir uns scheiden lassen wollten. Trotzdem hatte ich das Gefühl, nicht weiterleben zu können, bevor ich das Schwein nicht gefunden und getötet hatte. Was ich dann schließlich getan habe.«
»Unsere Ehe wurde im Himmel geschlossen«, sagte Philip mit derselben harten Stimme. »Ich weiß, das hört sich fürchterlich kitschig an …«
»Für mich nicht. Also empfinden Sie eine noch größere Leere als ich damals. So, und jetzt wollen wir uns auf unsere Arbeit konzentrieren, bis ich mich in diesem Kaninchenbau ebenso gut auskenne wie Sie …«
In den steinernen Schluchten waren nur wenige Menschen unterwegs. Von den Dachrinnen über ihren Köpfen hingen lange Eiszapfen wie spitze Dolche herab, und das Pflaster war an vielen Stellen mit tückischem Eis überzogen. Es war wesentlich kälter als am Tag ihrer Ankunft in Salzburg, und die Sonne schaffte es nicht, zwischen den sechsstöckigen, zum Teil jahrhundertealten Häusern hindurch in die schmalen Straßen einzudringen.
Newman schlug seine behandschuhten Hände gegeneinander, um die Blutzirkulation in Gang zu halten. Sie drangen immer tiefer in die Altstadt ein, und Newman sah alte Buchhandlungen und Antiquitätengeschäfte. Schließlich erreichten sie den Eingang zur Brodgasse.
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